In Liebe, Rachel
aufwachte und auf die Toilette musste? Sie würde eine Vase umwerfen oder über den Teppich stolpern oder gegen eine Wand laufen. Was, wenn sie ein Glas Wasser haben wollte? Sie würde auf einen Stuhl klettern, sich nach einem Glas strecken, es fallen lassen und dann barfuß in die Scherben treten. Dann müssten sie ein zweites Mal in die Notaufnahme fahren …
Wie soll ich das nur schaffen?
Ihre eigene Mutter hatte es allein bewältigt. Sie hatte in Tagschichten gearbeitet – später dann in Nachtschichten – und Jo abwechselnd bei Freunden in der Stadt untergebracht oder in inoffiziellen Tagesstätten, die sie sich eigentlich nicht leisten konnte, bis das Kind alt genug war, einen Hausschlüssel um den Hals tragen zu können. Wann war das gewesen … als sie neun Jahre alt war? Jo erinnerte sich daran, wie ihre Mutter nach zehn Uhr abends nach Hause kam, nach Hühnerstall und Blut roch und Hühnerfedern von ihrer Kleidung schüttelte. Sie arbeitete für den gesetzlichen Mindestlohn, zu einer Zeit, als man in Kentucky davon noch leben konnte, und schnitt Hühnerbrüste vom Knochen. Gütiger Himmel! Als Teenager hatte sich Jo geschworen, dass sie niemals arm in einer Stadt in Kentucky leben würde.
Und Jo lebte nicht vom gesetzlichen Mindestlohn. Im Gegenteil, sie verdiente richtig, richtig gut.
Dann dachte Jo an Kate. Die hypereffiziente Kate, die ihre sauberen Kinder von einer Sportgruppe zur nächsten chauffierte, das Haus staubfrei hielt, Cookies backte, die sie nach der Schule den Kindern mit einem Glas fettarmer Milch vorsetzte, die jeden Abend ein anständiges Familienessen auf den Tisch brachte. Kate, die in ihrem großen, weitläufigen Haus lebte mit ihrem Bring-bitte-Speck-mit-Ehemann, und die sich benahm, als wäre ihr persönliches Leben mit der Geburt des ersten Kindes zu Ende gegangen.
Jo stellte das Glas auf dem Tresen ab und presste beide Handflächen auf die Arbeitsplatte. Sie betrachtete sich lange in der Mikrowelle aus rostfreiem Stahl in dem maßgefertigten Schrank.
Dann rief sie sich in Erinnerung, dass sie Bobbie Jo Marcum war, Herrscherin ihres Universums. Zweiundzwanzig Menschen waren von ihr abhängig. Die Unternehmen der
Fortune
-500-Liste bezahlten ihr obszöne Geldsummen, um ihre neuesten Produkte auf unglaublich schicken Partys vorzustellen. Sie musste aufhören, wie Kate über die Mutterschaft zu denken – sie als etwas Überwältigendes, Auswegloses zu sehen, als etwas, das ihren eigenen Vorstellungen vom Leben einen Riegel vorschob. Sie musste Grace’ Erscheinen in ihrem Leben wie jedes andere Überstundenprojekt behandeln. Es würde nicht einfach werden, großes Organisationstalent erfordern, und auch die Suche nach professioneller Hilfe war nötig, doch für Leistungen dieser Art wurde sie schließlich jeden Tag bezahlt. Darin war sie gut.
Vielleicht hatte Rachel sie deshalb ausgewählt und nicht Kate.
Jo wusste außerdem, dass es kein verdammtes Problem auf der Welt gab, das man nicht mit Geld lösen konnte.
Zusammengerollt auf meinem Bett
In meinem engen, alten Zimmer
Teaneck, New Jersey
Liebe Kate,
wenn du das liest, Liebling, dann ist meine letzte verzweifelte Behandlung fehlgeschlagen, und ich werde tot sein.
Es tut mir leid, dass du es so erfahren musst. Ich wünschte, ich hätte euch allen früher von dem Krebs erzählt. Doch ich war so davon überzeugt, ihn besiegen zu können! Wie einen weiteren Berg hatte ich ihn mir vorgestellt, den ich zu bezwingen hatte. Ich wollte nicht, dass ihr euch um mich sorgt und großes Aufhebens darum macht, wo ich doch sicher schon bald wieder ich selbst sein würde.
Schon seltsam, worüber man so nachdenkt, wenn man die schlechte Nachricht erhalten hat. Als mir die Ärzte die Diagnose zum ersten Mal mitteilten, wollte ich eines mehr als alles andere tun: Fallschirmspringen. Es macht meinen Kopf frei, bündelt meine Energien und zeigt mir, was wirklich wichtig ist im Leben. O Mann, habe ich das gebraucht.
Dann habe ich dich angerufen, Kate. Du warst die erste Freundin, an die ich gedacht habe. Jahrelang habe ich versucht, dich dazu zu überreden, mich einmal zu begleiten. Ich hatte einen Grund dafür, Kate, denn schon lange hatte ich das Gefühl, dass dein Leben dich erdrückt. Du musst es mal von außen betrachten, um alles besser sehen zu können. Aber du hattest immer eine Entschuldigung. Erinnerst du dich? Du musstest bei einem Fußballspiel von Tess dabei sein. Eines Tages aber, hast du versprochen, würdest du
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