In Liebe, Rachel
zerstören.
»Grace ist ein stilles kleines Mädchen«, sagte die Sozialarbeiterin, »aber als ich sie durch Lovey habe sprechen lassen, hat sie Ihre Angaben bestätigt.«
»Hallelujah, ein Stoffkaninchen ist mir beigesprungen. Können wir jetzt nach Hause gehen?«
»Wenn die Ärztin fertig ist. Sagen Sie, haben Sie sie schon mal beim Schlafwandeln ertappt?«
»Dies ist die erste Nacht, die sie bei mir verbringt.«
»Ich verstehe.«
Jo versuchte, ihren Blick ruhig zu halten, was nicht einfach war. Sie wusste genauso gut wie diese Sozialarbeiterin, dass sie in ihren Manolo Blahniks und dem Kaschmirpullover nicht das Bild einer idealen Mutter abgab.
»Sie sollten sie gut im Auge behalten.« Die Frau wühlte in den Taschen ihres Jacketts. »Dieser kleine Stolperer könnte ein Unfall gewesen sein. Oder auch ein Weg, um Aufmerksamkeit zu erregen. Oder vielleicht schlafwandelt sie tatsächlich. Ich glaube nicht, dass sie den Tod ihrer Mutter schon vollständig erfasst hat. Kinder trauern ganz anders als Erwachsene.«
Jo nahm die ihr angebotene Visitenkarte. »Das ist doch hoffentlich Mary Poppins’ Telefonnummer.«
»Nein, das ist Dr. Rodriguez’ Nummer. Sie ist eine ausgezeichnete Kinderpsychiaterin, eine der besten der Stadt. Ich empfehle Ihnen, so bald wie möglich einen Termin bei ihr zu vereinbaren. Eine professionelle Einschätzung wird helfen.«
Dann verabschiedete sie sich. Die Sohlen ihrer weichen Schuhe machten keinerlei Geräusch, während sie sich durch die Empfangshalle entfernte und Jo mit der Erkenntnis zurückließ, dass sie nicht einfach die einzige Beschützerin eines siebenjährigen Mädchens war. Nein, sie war die einzige Beschützerin eines trauernden, sensiblen siebenjährigen Mädchens, und das bedeutete: Selbst wenn sie der Frau in den Hintern kriechen würde – sie würde todsicher versagen.
Warum, Rachel?
Jo war mit drei Sätzen Kleidung aufgewachsen. Jetzt wurde ihre Wäsche jeden Montag abgeholt und am Donnerstag schrankfertig zurückgebracht. Sie war mit einem Plumpsklo aufgewachsen, das sie mit den Nachbarn teilte. Jetzt putzte eine nette Portugiesin einmal die Woche ihre Toiletten, gleichgültig, ob sie es nötig hatten oder nicht. Jo hatte die Sonntage ihrer Kindheit, an denen sie Zeitungen austrug, gegen Nachmittage eingetauscht, an denen sie Bluegrass hörte und die
New York Times
las, vor allem um zu sehen, ob ihre Arbeit es in den Modeteil geschafft hatte. Sie hatte schon lange einen Ort erreicht, von dem sie früher nur geträumt hatte.
Ihr Leben war vollkommen, so, wie es war.
Und Rachel hatte das gewusst.
»Miss Marcum, geht es Ihnen gut?«
Die plastische Chirurgin stand vor ihr, Grace’ Krankenunterlagen in der Hand.
Nein.
»Ja, ich war nur etwas abgelenkt. Sind Sie mit dem Nähen fertig?«
»Fünf Stiche, ja.« Dr. Mulcahey zog einen Stift aus ihrer Kitteltasche und schrieb etwas in die Akte. »Sie ist ein tapferes Kind. Sehr ernst. Sie hat nicht geweint, nicht geschrien, eine perfekte Patientin. Geben Sie ihr Acetaminophen, wenn Sie daheim sind. Wie schwer ist sie – etwa fünfundzwanzig Kilo?«
Als ob ich das wüsste!
Jo nickte verhalten.
Die Ärztin rechnete kurz nach und schrieb dann die Dosierung auf – in Millilitern. Jo fragte sich, seit wann es Acetaminophen als Tropfen gab.
»Vereinbaren Sie bitte für nächste Woche einen Termin«, fuhr sie fort und riss die Entlassungspapiere von einem Block ab, »damit wir die Fäden ziehen können.«
Jo hoffte, dass die Ärzte auch samstags Sprechstunden abhielten, doch daran wollte sie jetzt noch nicht denken. Sie riss sich zusammen und ging in Grace’ Zimmer. Die Wunde war geschlossen, die Enden der Fäden standen in alle Richtungen ab. Die Krankenschwester am Bett sah auf, als Jo den Raum betrat, und warf ihr einen Blick zu, der zu sagen schien:
Wo, zur Hölle, waren Sie? Wie konnten Sie dieses Kind allein lassen?
»Ah, da ist sie ja, Grace«, sagte die Krankenschwester. »Bestimmt willst du jetzt nach Hause in dein eigenes Bett, nicht wahr?«
Grace’ Augen leuchteten auf. »Gehen wir nach Hause?«
»Ja, Kleines.« Jo nahm Grace’ Jacke. »Wir werden wieder eines dieser lustigen gelben Autos anhalten, so eins wie das, in dem wir hergekommen sind, das so schnell gefahren ist, weißt du noch? Damit fahren wir nach Hause.«
»Zu Nana?«
Jo schüttelte die Jacke aus und steckte Grace’ Arm in einen Ärmel und verbarg so ihr Gesicht. »Zurück zur langweiligen alten Nana? O nein, du wirst eine
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