In Liebe, Rachel
Weile bei Tante Jo bleiben. Das wird ein Abenteuer, meinst du nicht?« Bisher war es das ganz sicher gewesen. »Hey, aber was ist das denn?« Jo kniff die Augen zusammen, musterte die Stiche und tat so, als wollte sie daran zupfen. »Kleines, du hast eine Raupe auf der Stirn!«
Grace hob eine Hand und fuhr mit einem Finger über die mit antibiotischer Lösung getränkte Naht, als ob sie sie erst jetzt bemerken würde. Ihre Augen weiteten sich, und sie zog ihre Knie an die Brust, die Füße in den Braunbärhausschuhen gekreuzt.
Mist!
»Ich mache doch nur Spaß, Grace, die Naht wird von deinen Haaren bedeckt. Morgen um diese Zeit wirst du schon gar nichts mehr davon merken.« Jo zog dem Mädchen das Nachthemd über die Knie. »Na, komm schon, hilf mir, dir die Jacke anzuziehen.«
Sie drängte Grace aus dem Zimmer, bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten, und plapperte unaufhörlich den ganzen Weg bis zum Aufzug. Nach einem Zwischenstopp in der Krankenhausapotheke, wo Jo aus einer Überzahl an Schmerzmitteln für Kinder schließlich Tylenol mit Orangengeschmack auswählte – »Bei Kirsche«, erklärte Grace, »muss ich mich übergeben« –, riefen sie ein Taxi und fuhren nach Hause.
Manuel, der Portier, kniete sich vor Grace auf den Boden. »Wie geht es dir, Gracie? Alles wieder in Ordnung?«
Jo antwortete anstelle des schweigenden Mädchens. »Alles genäht, ja.«
»Genäht?« Er musterte Grace mit zusammengekniffenen Augen, legte den Kopf zur Seite, verzog das Gesicht, als er so tat, als würde er mit den Fingern etwas von ihrer Naht abzupfen. »Ähm, Gracie, ich sage dir das ungern, aber du hast da was vom Krankenhaus mitgebracht.«
O nein, o nein …
»Du hast eine Raupe auf der Stirn!«
Jo schlang die Arme um den Oberkörper.
Grace lachte.
Sie
lachte?
Als sie den Aufzug betraten, rief Manuel Grace hinterher: »Drück nicht auf den Knopf, Gracie, du bist noch zu klein dafür – nein, nicht den Knopf drücken!« Grinsend tippte Grace auf den Knopf. Jo winkte, als sich die Türen schlossen, und sagte dann fröhlich zu Grace: »Nicht die Acht drücken!«
Verschreckt zog sich das Mädchen in eine Ecke des Aufzugs zurück.
Resigniert drückte Jo selbst auf die Acht. Morgen, sagte sie sich, morgen wird ein besserer Tag.
In der Wohnung ging Grace schnurstracks zum Tatort und starrte auf die Blutflecken auf dem Teppich.
»Ich werde das in Ordnung bringen, Schätzchen, mach dir keine Gedanken. Ab nach oben mit dir.«
»Mag nicht hinaufgehen.«
»Bist du denn nicht müde? Das war doch so ein anstrengender Tag.«
Grace kaute an der Spitze des Stoffkaninchenohres. »Mag die Puppen nicht.«
»Die Puppen?«
»Die in dem großen Glasschrank.«
Jo runzelte die Stirn. Sie hatte das Kuriositätenkabinett im Gästezimmer völlig vergessen, das mit Porzellanpuppen in viktorianischen Kleidern gefüllt war. Ein Hobby, mit dem sie kurz nach Antritt ihres ersten Jobs begonnen hatte.
»Du darfst morgen mit ihnen spielen«, erwiderte Jo, »wenn du möchtest.«
»Sie starren mich an.«
»Sie haben tolle Augen, nicht wahr? Sie blinzeln auch.«
Grace packte ihr Kaninchen noch fester.
»Ich meine, wenn man sie bewegt, dann blinzeln sie. Sonst nicht.«
Ach herrje, und jetzt noch die Teufelspuppen.
Grace strich mit dem Finger über die Armlehne des Sofas. »Bei Nana darf ich auf der Couch liegen, wenn ich krank bin.«
»Wie bitte?«
»Und ich darf Zeichentrickfilme ansehen.«
Zahllose Gedanken schossen Jo durch den Kopf. Die meisten gingen in Richtung
Manipulation
und
ein schlechtes Beispiel geben
und
ganz falsch anfangen
, doch angesichts zweier brauner abgewandter Augen kam sie zu dem Schluss, dass es jetzt auch nicht mehr drauf ankam. Der Anfang war sowieso verkorkst. Also holte sie eine Decke und sagte: »Du darfst auch hier auf meiner weißen Couch schlafen, wenn du willst.«
Jo wählte für Grace einen Fernsehsender, der die ganze Nacht Zeichentrickserien zeigte, und schrubbte dann den Teppich sauber. Als Grace schließlich einschlief, dimmte Jo das Licht und schenkte sich einen Scotch ein, den sie in einem dankbaren großen Schluck trank.
Sie sagte sich, dass sie den Alkohol zur Beruhigung brauchte. Die Nacht in ihrem modernen Wohnzimmersessel zu verbringen würde nicht sehr bequem werden. Sie hatte ihn schließlich eher wegen des Designs und nicht wegen des Komforts gekauft. Doch welche Wahl hatte sie schon? Sie konnte Grace nicht allein hier unten lassen. Was, wenn die Kleine in der Nacht
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