In Liebe, Rachel
mitkommen. Eines Tages.
Dieser Tag ist jetzt gekommen, Liebling. Da, wo ich hingehe, gibt es keine Mobiltelefone. Deshalb steht meine allerletzte Bitte an dich in diesem Brief. Geh Fallschirm springen, Kate! Im Geiste werde ich bei dir sein, wenn du dich aus dem Flugzeug fallen lässt. Ich werde bei dir sein, wenn du die Reißleine ziehst. Du wirst mich nicht sehen, Kate, aber ich werde dort sein und zuschauen, wie du wieder zum Leben erwachst.
Tust du das für mich?
In Liebe,
Rachel
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Kapitel 5
K ate flog abermals – diesmal fast allein.
Der Wind sog ihr den Atem aus der Lunge. Der lose sitzende Anzug flatterte um ihren Körper. Bubba schwebte zu ihrer Linken und hielt ihren Arm und die Hüfte. Ein magerer junger Kerl namens Keifer schwebte zu ihrer Rechten und hielt sie dort fest.
Ich bin am Leben!
Ein einziger Gedanke, der ihren Geist elektrifizierte. O ja, sie verstand, dass sie mit tödlicher Geschwindigkeit auf den Erdboden zuraste, auf all die stacheligen Bäume und Stromleitungen und betonierten Flächen. Und sie blieb aufmerksam genug, um auf Keifers Signale zu achten und sich die Anweisungen von vier Stunden Training ins Gedächtnis zu rufen. Doch all das lief so automatisch ab, wie ihr Herz schlug, so unbewusst wie das Atmen. Vor allem spürte sie die brennende Sicherheit, dass sie
am Leben war
.
Sie hob den Kopf und strahlte in die Kamera, die an Keifers Helm befestigt war. Der Wind riss ihr das Lachen aus dem Mund. Irgendwo unter ihr entließen zwei Trainer einen weiteren Schüler, der nach einigen Augenblicken die Reißleine zog. Ein roter Fallschirm explodierte in den Himmel.
Kate atmete durch die Nase und spürte, wie ihr Körper durch die Atmosphäre hoch über der Erde schwebte. Sie fühlte sich zu allem imstande, zu
allem,
frei von jeder Kontrolle, so wie sie sich vor langer, langer Zeit einmal gefühlt hatte. Ehe sie verheiratet, vermuttert und mit Hypotheken verschuldet war. Hier im Himmel fiel das Gewicht dieser Jahre nach und nach von ihr ab und verschwand in die Vergessenheit.
Keifer gab ihr ein Zeichen, das sie erwiderte. Plötzlich lockerte sich der Griff der Männer. Sie schwebten von ihr weg, vom Wind fortgesogen.
Sie fiel allein.
Ich tue es wirklich!
Kate beugte die Arme. Sie schwankte, kam dann wieder in die Waagrechte. Die Luft trug sie. Sie hatte nur drei Sekunden.
Eins.
Warum hatte sie das nie zuvor gewagt? Rachel hatte so oft versucht, sie zu überreden. Jedes Mal, wenn Rachel das Training für ein Fahrradrennen oder eine Klettertour begonnen, für den Tauchschein geübt oder Erste Hilfe beim Roten Kreuz gelernt hatte, immer hatte sie gefragt, ob Kate sie begleiten wolle.
Zwei.
Zuerst hatte die Arbeit sie zu sehr in Anspruch genommen, danach ihr Ehemann, und viel zu bald darauf war sie zum ersten Mal Mutter geworden und dann noch einmal und noch einmal. Und dann waren die Hypothek auf das Haus und College-Konten für die Kinder, Kommunionen, Elterntreffen …
Drei.
Trauer wallte in ihr auf. Sie ließ es geschehen. Sie wollte
fühlen
. Deshalb hatte Rachel ihr das hier angetan. Seltsam, wie so ein Sprung den Nebel im Kopf lichten konnte. Kate wollte sich ab sofort für immer so intensiv fühlen.
Zieh!
Mit einem Pfeifen entfalteten sich die Schnüre. Der Wind fuhr unter die blaue Wolke des Fallschirms, der sich weit aufbauschte. Plötzlich riss der Schirm an ihrem Gurtzeug und sie in die Vertikale. Nach einer Sekunde verstummte das Brüllen des Windes, der Sog auf ihren Lungen verschwand, und sie lehnte sich zurück.
Sie schwebte durch den Himmel, bewunderte den weißen Dunst am Horizont, die goldfarbenen und roten Blätter, die aus dem grünen Teppich der Welt heraussprossen. Sie hieß die Trauer willkommen, ja selbst die Schuld. Wie sehr sie und Rachel sich voneinander entfernt hatten! Wie viele Male sie abgelehnt hatte! Wie sie Rachels Entschluss, ein Kind ohne einen Vater zu bekommen, stirnrunzelnd verurteilt hatte! Rachel hatte es ihnen bei einem Abendessen eröffnet, als ob es sich um eine weitere Reise in den brasilianischen Dschungel handelte.
Heute, gerade jetzt, wo die Grenzen ihrer Welt so weit waren wie der Horizont, konnte Kate sie beinahe verstehen.
Die Landefläche schimmerte hellgelb auf dem Rollfeld und wurde immer größer. Sie befolgte die Handzeichen ihrer Lehrer und zog an den Schnüren, wie man es ihr beigebracht hatte, um sich dem Zielfeld zu nähern.
Doch ihr Blick ruhte nicht auf dem kleinen gelben Kreis, sondern auf einem
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