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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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den untätigen Bulldozern verirrte, deren monströse Formen im Finstern beängstigend wirkten. Der Himmel der Erde war dunkelblau in der Nacht nach meinem Tod, und in diesen offenen Raum hinaus konnte Mr. Harvey meilenweit sehen. Ich entschied mich dafür, neben ihm zu stehen, diese Meilen vor mir zu sehen, wie er sie sah. Ich wollte dahin gehen, wo er hinging. Es hatte aufgehört zu schneien. Es war windig. Er trat auf eine Fläche, die, wie sein Baumeisterinstinkt ihm verriet, bald ein künstlicher Teich sein würde, und er stand da und befingerte die Anhänger ein letztes Mal. Ihm gefiel der kleine, metallene Staat Pennsylvania, in den mein Vater meine Initialen hatte eingravieren lassen - mein Favorit war das winzige Fahrrad -, und er riss ihn ab und steckte ihn in seine Tasche. Dann warf er das Armband mit den restlichen Anhängern in den künftigen von Menschen gemachten See.
    Zwei Tage vor Weihnachten beobachtete ich, wie Mr. Harvey ein Buch über die Dogon und Bambara in Mali las. Ich sah den hellen Funken einer Idee, als er über den Stoff und die Seile las, mit denen sie Unterkünfte bauten. Er beschloss, wieder zu bauen, zu experimentieren, wie er es mit dem Erdloch getan hatte, und er entschied sich für ein Zeremonienzelt wie dasjenige, das in seinem Buch beschrieben war. Er würde die einfachen Materialien zusammensuchen und es innerhalb weniger Stunden hinten in seinem Garten aufstellen.
    Nachdem mein Vater alle Flaschenschiffe zerschmettert hatte, traf er ihn dort an.
    Es war kalt draußen, aber Mr. Harvey trug nur ein dünnes Baumwollhemd. Er war dieses Jahr sechsunddreißig geworden und probierte zum ersten Mal harte Kontaktlinsen aus. Ihretwegen waren seine Augen ständig blutunterlaufen, und viele Leute, darunter mein Vater, glaubten, er hätte angefangen zu trinken.
    »Was ist das?«, fragte mein Vater.
    Trotz der Herzschwäche der Salmon-Männer war mein Vater robust. Er war größer und breiter als Mr. Harvey, sodass er, als er um das grüne Schindelhaus herum in den Garten trat, wo er Harvey Gegenstände aufstellen sah, die wie Torpfosten aussahen, derb und tatkräftig wirkte. Ihm schwirrte noch der Kopf davon, dass er mich in den Glasscherben erblickt hatte. Ich schaute zu, wie er über den Rasen schritt, schlendernd, wie Schulkinder auf dem Weg in die Highschool. Kurz bevor er mit dem Handteller Mr. Harveys Holunderhecke streifte, blieb er stehen.
    »Was ist das?«, fragte er noch einmal.
    Mr. Harvey hielt lange genug inne, um ihn anzublicken, und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.
    »Ein Flechtzelt.«
    »Was ist das?«
    »Mr. Salmon«, sagte er. »Es tut mir sehr Leid wegen Ihres Verlusts.«
    Sich hoch aufrichtend, reagierte mein Vater so, wie es das Ritual erforderte.
    »Danke.« Es war, als ob ein Stein in seiner Kehle steckte.
    Es folgte ein Moment des Schweigens, dann fragte ihn Mr. Harvey, der spürte, dass mein Vater nicht die Absicht hatte zu gehen, ob er gern helfen würde.
    So kam es, dass ich vom Himmel aus zuschaute, wie mein Vater mit dem Mann, der mich ermordet hatte, ein Zelt aufbaute.
    Viel lernte mein Vater nicht. Er lernte, gebogene Stäbe auf gezackte Pfähle zu spießen und schlankere Ruten durch diese Stäbe zu fädeln, sodass in der anderen Richtung Halbbögen entstanden. Er lernte, die Enden dieser Ruten zu raffen und sie an den Querhölzern festzuzurren. Er erfuhr, dass er das alles tat, weil Mr. Harvey etwas über den Stamm der Imezzureg gelesen hatte und ihre Zelte nachbauen wollte. Er stand da, bestärkt in der Meinung der Nachbarn, dass der Mann sonderbar war. Das war bisher alles.
    Als aber die Grundkonstruktion fertig war - eine Sache von einer Stunde -, ging Mr. Harvey ins Haus, ohne zu sagen, warum. Mein Vater nahm an, es sei Zeit für eine Pause. Dass Mr. Harvey hineingegangen war, um sich Kaffee zu holen oder eine Kanne Tee zu kochen.
    Er irrte sich. Mr. Harvey ging ins Haus und die Treppen hoch, um nach dem Tranchiermesser zu sehen, das er in seinem Schlafzimmer aufbewahrte. Es befand sich nach wie vor im Nachttisch, wo sein Zeichenblock lag, auf den er oft mitten in der Nacht die Entwürfe aus seinen Träumen skizzierte. Er schaute in eine zerknüllte Papiertüte. Mein Blut auf der Klinge war schwarz geworden. Als er sich daran erinnerte, sich an seine Tat in dem Erdloch erinnerte, fiel ihm ein, was er über einen bestimmten Stamm im Süden von Ayr gelesen hatte. Dass nämlich, wenn ein Zelt für ein frisch vermähltes Paar errichtet wurde, die

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