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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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schluchzend auf mein Bett und zerknüllte die lavendelfarbigen Laken in seinen Händen.
    »Daddy?«, sagte Buckley. Mein Bruder hielt den Türknauf in der Hand.
    Mein Vater wandte sich um, war aber unfähig, seinen Tränen Einhalt zu gebieten. Er ließ sich, die Laken noch in seinen Fäusten, zu Boden gleiten und breitete dann die Arme aus. Er musste meinen Bruder zweimal auffordern, was noch nie nötig gewesen war, aber Buckley kam zu ihm.
    Mein Vater wickelte meinen Bruder in die Laken, die nach mir rochen. Er erinnerte sich an den Tag, an dem ich ihn gebeten hatte, mein Zimmer lila zu streichen und zu tapezieren. Erinnerte sich, wie er die alten
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in die untersten Borde meiner Bücherregale einsortierte. (Ich wollte tief in die Tierfotografie eintauchen.) Erinnerte sich an die kurze Zeit vor Lindseys Ankunft, als nur ein Kind im Haus gewesen war.
    »Du bist etwas ganz Besonderes für mich, kleiner Mann«, sagte mein Vater, sich an ihn klammernd.
    Buckley wich zurück und starrte das faltige Gesicht meines Vaters an, die feinen, hellen Tränenflecken in seinen Augenwinkeln. Er nickte ernst und küsste meinen Vater auf die Wange. Etwas so Göttliches, das sich keiner im Himmel hätte ausdenken können: die Fürsorge, die ein Kind einem Erwachsenen angedeihen ließ.
    Mein Vater drapierte die Laken um Buckleys Schultern und erinnerte sich daran, wie ich ständig aus dem hohen Himmelbett auf den Vorleger gefallen und dabei nie aufgewacht war. Wenn er in seinem Arbeitszimmer in seinem grünen Sessel saß und ein Buch las, wurde er oft durch das Geräusch meines landenden Körpers aufgeschreckt. Dann stand er auf und ging den kurzen Weg in mein Zimmer. Er sah gern zu, wie ich fest schlief, ungestört durch Albträume oder den harten Fußboden. In jenen Momenten schwor er sich, dass seine Kinder Könige oder Herrscher oder Künstlerinnen oder Ärzte oder Tierfotografinnen werden sollten. Alles, was sie sich erträumten.
    Ein paar Monate vor meinem Tod hatte er mich wieder so vorgefunden, doch diesmal steckte mit mir in meinem Bettzeug Buckley in seinem Pyjama und mit seinem Teddy, an meinen Rücken geschmiegt und schläfrig am Daumen lutschend. In diesem Augenblick hatte mein Vater das erste Aufflackern der seltsamen, traurigen Sterblichkeit des Vaterseins verspürt. Sein Leben hatte drei Kinder hervorgebracht, und diese Zahl beruhigte ihn. Egal, was Abigail oder ihm widerfuhr, die drei würden einander haben. So gesehen, erschien ihm die Linie, die er begonnen hatte, unsterblich, wie ein starker Stahlfaden, der sich in die Zukunft zog und über ihn hinaus existierte, unabhängig davon, wann er herunterfallen mochte. Sogar noch im tiefen, verschneiten, hohen Alter.
    Seine Susie würde er jetzt in seinem jungen Sohn finden. Die Liebe den Lebenden zukommen lassen. Das sagte er sich vor - sprach es im Geiste laut aus -, doch meine Gegenwart zerrte an ihm, zog ihn zurück zurück zurück. Er starrte den kleinen Jungen an, den er in den Armen hielt. Er merkte, wie er sich fragte: »
Wer bist du? Woher kommst du?«
    Ich beobachtete meinen Bruder und meinen Vater. Die Wahrheit unterschied sich beträchtlich von dem, was wir in der Schule gelernt hatten. Die Wahrheit war, dass die Grenze zwischen Lebenden und Toten anscheinend unklar und verschwommen sein konnte.

4
    In den Stunden nach meiner Ermordung, als meine Mutter herumtelefonierte und mein Vater begann, auf der Suche nach mir in der Nachbarschaft von Tür zu Tür zu wandern, hatte Mr. Harvey das Erdloch im Maisfeld schon zum Einsturz gebracht und trug einen Sack, gefüllt mit meinen Körperteilen, davon. Er ging nur zwei Häuser entfernt an der Stelle vorbei, wo mein Vater stand und mit Mr. und Mrs. Tarking redete. Er hielt sich an die Grundstücksgrenze zwischen zwei Reihen ineinander wuchernder Hecken - Buchsbaum bei den O'Dwyers und Goldrute bei den Steads. Sein Körper streifte die kräftigen grünen Blätter und hinterließ dabei Spuren von mir, Gerüche, die der Hund der Gilberts aufnehmen und verfolgen würde, bis er meinen Ellbogen entdeckte, Gerüche, die der Graupel und der Regen der nächsten drei Tage fortspülen würde, bevor man auch nur an Polizeihunde dachte. Er trug mich zu seinem Haus, wo ich, während er hineinging, um sich zu waschen, auf ihn wartete.
    Als das Haus den Besitzer wechselte, beklagte sich der neue Eigentümer über den dunklen Fleck auf dem Garagenfußboden. Die Maklerin hatte gesagt, als sie potenzielle Käufer

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