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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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verschlucken!«, sagte er. Er setzte seinen Hut auf und zog die dunklen Korduanlederhandschuhe an, die ich so gerne gehabt hätte. Ich wusste, Handschuhe bedeuteten, dass man erwachsen, und Fäustlinge, dass man ein Kind war. (Zu Weihnachten 1973 hatte meine Mutter mir ein Paar Handschuhe gekauft. Lindsey bekam sie, aber sie wusste, dass sie mir gehörten. Sie hinterlegte sie eines Tages auf dem Heimweg von der Schule am Rande des Maisfelds. Das tat sie dauernd - mir Sachen bringen.)
    »Die Erde hat einen Mund?«, fragte Buckley.
    »Einen großen, runden Mund ohne Lippen«, sagte mein Vater.
    »Jack«, sagte meine Mutter lachend, »hör auf damit. Weißt du, dass ich ihn draußen dabei erwischt habe, wie er die Löwenmäulchen anknurrte?«
    »Ich komme mit«, sagte ich. Mein Vater hatte mir erzählt, dass es eine verlassene, unterirdische Mine war, die in sich zusammengebrochen sei und nun ein Schlundloch bildete. Mir war das egal; ich wollte ebenso gern wie jedes Kind sehen, wie die Erde etwas verschluckt.
    Als ich daher Mr. Harvey dabei beobachte, wie er mich zu dem Schlundloch brachte, musste ich ihn einfach dafür bewundern, wie schlau er war. Wie er den Sack in einen metallenen Safe steckte, sodass ich von so viel Gewicht umgeben war.
    Es war spät, als wir ankamen, und er ließ den Safe in seinem Wagoneer, während er sich dem Haus der Flanagans näherte, die auf dem Grundstück wohnten, wo das Schlundloch war. Die Flanagans lebten davon, dass sie die Leute für das Entsorgen ihrer Geräte bezahlen ließen.
    Mr. Harvey klopfte an die Tür des weißen Häuschens, und eine Frau öffnete ihm. Der Duft nach Rosmarin und Lamm erfüllte meinen Himmel und stieg Mr. Harvey in die Nase, als er aus dem hinteren Teil des Hauses drang. In der Küche konnte er einen Mann sehen.
    »Guten Abend, Sir«, sagte Mrs. Flanagan. »Sie haben was für uns?«
    »Hinten in meinem Wagen«, sagte Mr. Harvey. Er hielt einen Zwanzig-Dollar-Schein bereit.
    »Was haben Sie da drin, eine Leiche?«, scherzte sie.
    Dabei war es das Letzte, was sie vermutete. Sie wohnte in einem warmen, wenn auch kleinen Haus. Sie hatte einen Ehemann, der immer da war, um alles zu reparieren und lieb zu ihr zu sein, weil er nicht arbeiten musste, und sie hatte einen Sohn, der noch so klein war, dass er dachte, seine Mutter sei das Einzige auf der Welt.
    Mr. Harvey lächelte, und während sich das Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, konnte ich nicht weggucken.
    »Alter Safe von meinem Vater, hab ihn endlich mal hier rausgeschafft«, sagte er. »Habe ich schon seit Jahren vor. Keiner erinnert sich mehr an die Zahlenkombination.«
    »Irgendwas drin?«
    »Abgestandene Luft.«
    »Dann mal los. Brauchen Sie Hilfe?«
    »Das wäre reizend«, sagte er.
    Die Flanagans argwöhnten keinen Moment lang, dass das Mädchen, über das sie im Laufe der nächsten Jahre in den Zeitungen lasen - VERMISST, VERDACHT AUF VERBRECHEN; ELLBOGEN VON NACHBARSHUND GEFUNDEN; MÄDCHEN, 14, WAHRSCHEINLICH IM STOLFUZSCHEN MAISFELD ERMORDET; WARNUNG AN ANDERE JUNGE FRAUEN; GEMEINDE WIRD DIE AN DIE HIGHSCHOOL GRENZENDEN GRUNDSTÜCKE NEU AUFTEILEN; LINDSEY SALMON, SCHWESTER DER TOTEN, HÄLT ABSCHIEDSREDE -, in dem grauen Metallsafe gewesen war, den ein einsamer Mann ihnen eines Abends gebracht und für dessen Versenkung er ihnen zwanzig Dollar bezahlt hatte.
    Auf dem Rückweg zum Wagen steckte Mr. Harvey die Hände in seine Taschen. Darin war mein silbernes Armband mit den Anhängern. Er konnte sich nicht entsinnen, dass er es mir vom Handgelenk genommen hatte. Erinnerte sich nicht, wie er es in die Tasche seiner sauberen Hose geschoben hatte. Er befingerte es und stieß mit der fleischigen Kuppe seines Zeigefingers auf das glatte, vergoldete Metall der Nachbildung des Staates Pennsylvania, auf die Ferse des Ballettschuhs, das winzige Loch des Miniaturfingerhuts und die Speichen des Fahrrads mit den sich drehenden Rädern. An der Route 202 hielt er am Straßenrand an, aß ein Leberwurst-Sandwich, das er sich nachmittags gemacht hatte, und fuhr dann zu einem Industriegelände, das sie südlich von Downingtown anlegten. Niemand war auf der Baustelle. Damals gab es in den Vororten keine Sicherheitsmaßnahmen. Er parkte sein Auto neben einer mobilen Toilette. Damit hatte er einen Vorwand für den unwahrscheinlichen Fall, dass er einen brauchte.
    Es war dieser Teil des Nachspiels, an den ich dachte, wenn ich an Mr. Harvey dachte - wie er um die schlammigen Baugruben herumwanderte und sich zwischen

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