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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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ihn, »ich werde allein damit fertig.«
    Was sollte er damit anfangen? Er hätte die Regeln verletzen und sagen können: »Aber ich nicht, ich kann nicht, lass mich nicht damit allein«, doch er stand eine Sekunde lang da und zog sich dann zurück. »Ich verstehe«, sagte er lieber, obgleich das nicht stimmte.
    Ich hätte ihn am liebsten emporgehoben, wie bei den Statuen, die ich in kunstgeschichtlichen Büchern gesehen hatte. Eine Frau, die einen Mann emporhebt. Die Rettung einmal umgekehrt. Die Tochter, die zum Vater sagt: »Es ist alles in Ordnung. Du bist okay. Ich werde nicht zulassen, dass irgendetwas wehtut.«
    Stattdessen beobachtete ich, wie er Len Fenerman anrief.
    In jenen ersten Tagen waren die Polizisten fast ehrerbietig. Vermisste, tote Mädchen kamen in den Vororten nicht oft vor. Als aber keine Hinweise darauf eingingen, wo mein Leichnam war oder wer mich getötet hatte, wurde die Polizei nervös. Es gab ein zeitliches Fenster, innerhalb dessen üblicherweise konkrete Indizien gefunden wurden; dieses Fenster wurde jeden Tag kleiner.
    »Ich möchte nicht irrational klingen, Detective Fenerman«, sagte mein Vater.
    »Len, bitte.« Unter der Ecke seines Dienstbuchs klemmte das Schulfoto, das Len Fenerman von meiner Mutter entgegengenommen hatte. Er hatte bereits gewusst, dass ich tot war, bevor es jemand aussprach.
    »Ich bin sicher, dass es in der Nachbarschaft einen Mann gibt, der etwas weiß«, sagte mein Vater. Er starrte aus dem Fenster seines Arbeitszimmers im Obergeschoss auf das Maisfeld. Der Besitzer hatte der Presse mitgeteilt, er würde es fürs Erste brachliegen lassen.
    »Wer ist es, und wie kommen Sie zu der Annahme?«, fragte Len Fenerman. Er holte einen abgekauten Bleistiftstummel aus dem vordersten Metallfach seiner Schreibtischschublade.
    Mein Vater erzählte ihm von dem Zelt, davon, dass Mr. Harvey gesagt hatte, er solle nach Hause gehen, wie er meinen Namen genannt hatte, wie seltsam die Nachbarn Mr. Harvey fänden, der keine regelmäßige Arbeit und keine Kinder hatte.
    »Ich überprüfe das«, sagte Len Fenerman, weil er es musste. Das war die Rolle, die er in dem Stück spielte. Doch mein Vater hatte ihm wenig oder nichts geboten, mit dem er etwas anfangen konnte. »Reden Sie mit niemandem darüber und halten Sie sich von ihm fern«, warnte Len.
    Als mein Vater den Hörer auflegte, fühlte er sich merkwürdig leer. Ausgelaugt öffnete er die Tür seines Arbeitszimmers und schloss sie leise hinter sich. Im Flur rief er zum zweiten Mal den Namen meiner Mutter: »Abigail.«
    Sie war unten im Bad und naschte von den Makronen, die die Firma meines Vaters uns immer zu Weihnachten schickte. Sie aß sie gierig; sie waren wie strahlend platzende Sonnen in ihrem Mund. In dem Sommer, in dem sie mit mir schwanger war, trug sie ständig dasselbe baumwollene Umstandskleid, weil sie sich weigerte, Geld für ein zweites auszugeben, und aß, so viel sie wollte, wobei sie sich den Bauch rieb und »Danke, Baby« sagte, während ihr Schokolade auf die Brüste kleckerte.
    Es klopfte ganz unten an der Tür.
    »Momma?« Sie stopfte die Makronen wieder in das Medizinschränkchen und schluckte herunter, was sie noch im Mund hatte.
    »Momma?«, wiederholte Buckley. Seine Stimme klang schläfrig.
    »
Mommmmm-maa!«
    Sie verabscheute das Wort.
    Als meine Mutter die Tür aufmachte, klammerte mein kleiner Bruder sich an ihre Knie. Buckley presste sein Gesicht in das Fleisch über ihnen.
    Mein Vater hörte Schritte und ging in die Küche, wo er auf meine Mutter traf. Gemeinsam suchten sie Trost darin, sich Buckleys anzunehmen.
    »Wo ist Susie?«, fragte Buckley, während mein Vater Nusskrem auf Weißbrot strich. Er machte drei Scheiben. Eine für sich, eine für meine Mutter und eine für seinen vierjährigen Sohn.
    »Hast du dein Spiel weggeräumt?«, fragte mein Vater Buckley und wunderte sich darüber, dass er darauf bestand, das Thema gerade bei der Person zu meiden, die es offen ansprach.
    »Was ist mit Mommy los?«, fragte Buckley. Zusammen schauten sie meine Mutter an, die in das trockene Spülbecken starrte.
    »Hättest du Lust, diese Woche in den Zoo zu gehen?«, fragte mein Vater. Er hasste sich selbst dafür. Hasste die Bestechung und den neckischen Ton - die Täuschung. Aber wie sollte er seinem Sohn erzählen, dass seine große Schwester vielleicht irgendwo zerstückelt lag?
    Doch Buckley hörte das Wort
Zoo
und alles, was es bedeutete - für ihn hauptsächlich
Affen!
-, und er begab sich einen

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