In Santiago sehen wir uns wieder
ist sehr heiß, also habe ich in der Dunkelheit mein Unterhemd ausgezogen und mich auf den Schlafsack gelegt. Zu spät, mein südlicher Nachbar hat mich beobachtet. Ich ziehe mich wieder an. Der junge Mann tippt mir auf den Arm - ob ich denn mehr Platz brauche - ja, ich rutsche in seine Richtung, vom nördlichen Röcheln weg. »Kannst dir ruhig noch mehr Raum bei mir nehmen.« - »Eine Einladung«, zischelt mir Amanda ins Ohr. »Psst« - ich muss lachen. »Ungefähr 200 Schnarchmelodien kann ich inzwischen voneinander unterscheiden«, sage ich zum Süden. Jetzt lachen wir beide. »Und stell dir vor, der Heilige Jakob schaut von oben auf uns herunter!« - Lachen. - »Darf ich dich umarmen?« fragt der Süden. »Ja, ein bisschen«, sagt die Salamischnitte im Sandwich Nord-Süd. Er umarmt mich kurz und küsst mich herzhaft auf die Wange. Schon steht Morpheus inmitten des ganzen Pilger-Turbo-Touristen-Wirrwarrs und nimmt mich in Empfang.
»Habe mich köstlich amüsiert heute Nacht«, sagt Amanda, als ich mit Kopfschmerzen in den neuen Tag hinausfinde. »Und mit dir Hochzeit gefeiert?« frage ich. »Auch ich habe meine kleinen Geheimnisse«, sagt das Gör.
Arzúa - Santa Irene
Freitag, 1. August
Satte Düfte, Kühe und Landwirtschaft, die blauen Kugeln der Hortensien, Gladiolen, Fuchsien und meine Lieblingsblumen, die orangeroten Monbretien. Wärme, feuchte Üppigkeit. In der Bar von Calle sitzt Alexandra aus Malaga. »Stell dir vor, Bella, morgen kommen wir alle in Santiago an - unvorstellbar!« Sie streicht mir über die Hände, ihre Augen strahlen. »In Santiago sehen wir uns wieder«, singt Amanda aus ihrer Pilgermuschel heraus. »Was werden meine Füße sagen, wenn wir es tatsächlich geschafft haben, Amanda? 850 Kilometer zu Fuß, weißt du wie viele Meter, wie viele Schritte das sind?« - »Und die geschummelten Bus- und Autokilometer? Wie verrechnest du die?« - »Sei nicht kleinlich, rechne mal den prozentualen Anteil aus und vergiss nicht die Sonderleistungen, San Millán de Cogolla, San Miguel de Escalada, Peñalba und so - hast du das vergessen?« - »Ich meine ja nur, um der Ordnung willen.« - »Höre ich richtig, Ordnung?« - »Na ja«, sagt Amanda, »gewisse Muster wird man nicht so schnell los, sei du mal eine Schnecke.«
Es ist das vorletzte morgendliche Aufbrechen vor unserer Ankunft in Santiago. Einpacken, die Füße eincremen, Schuhe anziehen und den Rucksack hochhieven. Alles sitzt richtig, die Gurte, die Tasche vorn als Gegengewicht, die Trinkflasche. Nichts vergessen? Ein Blick zurück- du gehst an die Tür, >buen camino<, >buen viaje<. Draußen vor der Tür haben die gelben Pfeile schon die ganze Nacht auf dich gewartet. Das Wetter, die Temperatur. Nein, auch heute wird es nicht regnen. Eine Bar ist offen, ein café con leche, ein Madalena oder ein Schluck aus der Trinkflasche - du lässt die Herberge hinter dir, das Dorf, die letzten Häuser - der Weg windet sich unter deinen Tritten, eins rechts, eins links, sandig, steinig, schmal oder breit, Beton oder Asphalt, rauf, runter, und du gehst und gehst. Die anderen gehen auch, du überholst sie, sie holen dich ein, Einzelne, Grüppchen, alle auf dem einen Strom, in die eine Stadt. Und der erzählt von dem und kennt die, welche dort, aber dann... und die Neuigkeiten flüstern sich durch den Camino. Ist der Landstreicher von neulich schon durch? Der hat in alle Rucksäcke geguckt. Als die Polizei kam, schlief er fest. Siehe da, da ist seine Jacke, er wird doch nicht... in der Herberge von..., da hat der... kennst du die? Der Camino ist eine unendlich lange Schlange, die sich durch die Lande windet, und jeder von uns ist eine wandernde Zelle. »Und die Milchstraße?« fragt Amanda. »Ich habe Sehnsucht nach der Schwärze eines nächtlichen Himmels mit dem funkelnden Geschmeide und dem goldenen Staub da oben.«
Du gehst ins Bett, es ist noch hell, du wachst auf, die Sterne sind erloschen. Wenn die Hähne krähen, die Sonne durch den Nebel bricht, bist du schon weit, und dein Schatten läuft vor dir her. Ultreia.
❖
»Warum weinst du, Bella?« Amanda tippt mir auf die Schulter. »Eben, weil das alles bald zu Ende ist. Und weil, weil ich, ach Amanda, der Camino hat mir das Prinzip Schwester geschenkt. Ich gehe seit Jahrzehnten mit vier Schwestern durchs Leben, erst hier und heute fühle ich, wie kostbar das ist. Ich bin eine Tochter wie diese da, die auch Tochter dieser beiden ist. Wie viele Menschen auf der Welt können das
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