In Santiago sehen wir uns wieder
Wolfgang in einem Restaurant des Stuttgarter Ostens und verschluckt sich nicht an den Gräten der Forelle, die auf seinem Teller liegt.
Vom >Ave Maria<, das ich heute im Traum singen wollte, kannte ich nur den Anfang. Von allen Liedern kenne ich nur den Anfang, und Texte kann ich mir nicht merken. Was werden mir die Kirchen und Kapellen am Camino erzählen, die Klöster, die Libellen und die Steine am Weg?
Ich nehme den blaugrün polierten Stein in die Hand, den mir Edith auf meine Reise mitgegeben hat: »Ein Glücksbringer.« Eine helle Maserung überzieht ihn wie ein Blütengesteck, das im Wasser schwimmt. Die Fenster meines Zimmers spiegeln sich auf seiner Oberfläche. Ein Tümpel, ein Teich, ein Meeresgrund, und unermesslich weit...
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»Das Schwierigste an deiner Reise ist die Beschränkung«, sagt meine Freundin Kirsten. Ich stelle einen Waschkorb auf die Waage und lade ein: den neuen Rucksack, den tiefnachtblauleichten Schlafsack mit glänzendem Seidenfutter, Isomatte, Moskitonetz - »jetzt bin ich autonom und kann draußen schlafen«; das Kabel mit dem Sicherheitsschloss wiegt schwer; Universalseife, Wörterbuch und Reisebeschreibung; ein bisschen Funktionsunterwäsche, schon - wer weiß warum - während der Kur gekauft, Mikrofaserhosen und -blusen, eine Sonnenmütze mit Nackensegel - Aldi findet immer eine Lösung -, eine ultraleichte Vliesjacke, eine Weste mit tausend Taschen. Ach, und dann wird der Wäschekorb immer schwerer: Pflaster, Salben, Schere, Messer, Trinkflasche, Schreibheft, Zeichenblock, Stifte...
»Ich würde Meister Eckehart mitnehmen«, sagt der Schwager. »Nein«, sage ich, »ich nehme meine leeren Hände mit, einen schweren Rucksack und - « - »Auf Ihre innere Stimme können Sie sich verlassen«, hatte die Therapeutin im Schwarzwald zum Abschied gesagt. Die nehme ich also auch mit.
Mit jedem Stück, das ich kaufe, werde ich aufgeregter. Wünsche und Pläne schwirren durch meinen Kopf, nachts liege ich stundenlang wach und versuche, mir die Reise vorzustellen. Doch dann die Pläne in die Realität pressen! Realität ist kantig und träge, unumkehrbar und körperlich spürbar. Jede Neuerwerbung ist ein Faktum, das Konsequenzen hat. Vielleicht sollte ich in nächster Zeit den Bohnenkaffee weglassen? Noch immer könnte ich Nein sagen und zu Hause bleiben. Und dann? Leben besteht aus der Wahl, zur richtigen Zeit Ja oder auch Nein sagen. Wandersocken, atmungsaktiv. Neue Einlagen in die alten Wanderstiefel. Eine Trillerpfeife für... ja, ich weiß nicht wofür, streunende Hunde, und »Sieh dich vor«, sagt meine Nichte, »geh immer in Sichtweite von anderen Pilgern.« Mir sinkt das Herz tiefer und tiefer. »Nicht doch«, sagt Freund Roland, »du siehst stark aus, keiner wird es wagen, und im Übrigen, so...«, und macht eine heftige Bewegung mit dem Knie aufwärts.
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Ach, nun weiß ich auch, warum meine Füße es neulich so eilig hatten. Die gesamte Arbeit haben sie mir hinterlassen. Die Arbeit des Erledigens, des Kaufens, des Aufräumens - und den Schmerz des Abschiednehmens! Das Aufräumen. Die Bananenkartons vom Umzug zum Dachbodenfenster hinauswerfen, platt treten und zur Müllkippe fahren. Da stehe ich nun am Rand des >Schinderteichs< über zerschlissenen Sofas, verrotteten Tischen, geknickten Lampen. Es riecht nach Müll. Mit Schwung werfe ich die große blaue Plastiktüte hinunter, die Tischplatten aus der alten Küche und - Vaters alten Rucksack? Vaters alten Rucksack den Mäusen, Ratten und Würmern anheimgeben?
Er braucht ihn nicht mehr. In einem Pflegeheim sitzt er regungslos im Rollstuhl, und seine Seele geht Wege, die wir nicht kennen. Er redet nicht mehr, und doch ist er da. »Vater«, sage ich, »Vater, wir werden uns vielleicht nie mehr sehen. Ich gehe den Jakobsweg nach Santiago de Compostela.« Sein Atem geht schnell. »Wenn ich früher auf Reisen ging, hast du zum Abschied gesagt: >Behüt dich Gott<, jetzt sage ich es dir: Behüt dich Gott, Vater, du bist geführt, begleitet und geschützt, behüt dich Gott.« Ich streiche ihm über die Arme und verabschiede mich von dem Gesicht, über dessen Wangen Tränen laufen. Sein rechtes Auge schaut mich durch einen schmalen Lidspalt an. Es scheint mich zu erkennen, auf welcher Ebene auch immer.
Wir fahren durch helles Frühlingslicht, die Schwester und ich, wandeln durch die rokokoleichte Zauberwelt der Steinhausener Wallfahrtskirche, laufen über den Bohlenweg in den Federsee hinein. Schwäne fischen in
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