In seinem Bann
später der Wecker.
Entsprechend verkatert und hundemüde stieg ich eine Dreiviertelstunde später ins Taxi.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Kollegin!« begrüßte mich Leander Sandberg breit grinsend mit seiner volltönenden Stimme und dem markanten rheinischen Dialekt.
»Guten Morgen«, brummte ich.
»Haben wir etwa schlecht geschlafen?« mutmaßte Leander und schob seine markante Brille zurecht. Das gutgelaunte Grinsen schien ihm ins Gesicht gemeißelt zu sein.
»Schlecht geschlafen, Kopfschmerzen, auf dem Weg ins Bad über die Katze gestürzt, den Kaffee verschüttet und den Daumen verbrüht, meine Sonnenbrille gesucht und nicht gefunden, sonst aber alles bestens«, fasste ich wahrheitsgemäß zusammen.
Leander lachte schallend – die rheinische Frohnatur.
»Du weißt doch, der frühe Vogel –.«
»Ist ein Spießer und kann mich mal«, unterbrach ich ihn mürrisch.
Mein Kollege brach erneut in Gelächter aus und ich begann mich zu fragen, wie ich das zwei Tage lang aushalten sollte.
Ich war missmutig wegen der Uhrzeit, angespannt wegen des Fliegens, nervös wegen des internationalen Tagungspublikums und beunruhigt wegen Ian.
Leander dagegen schien sich einfach auf ein nettes Wochenende in London zu freuen.
Tatsächlich verlief unsere Anreise entgegen des miesen Tagesstarts am frühen Morgen ohne nennenswerte Komplikationen. Wir standen nicht im Stau, unser Direktflug ging pünktlich und so landeten wir dank der Zeitverschiebung schon um halb neun in Heathrow. Mit dem Taxi ging es dann in Richtung Londoner Westend. Auf Empfehlung der Kongress-Administratorin hatte ich Zimmer im Strand Palace Hotel gebucht, nur wenige Gehminuten vom Tagungszentrum im Davidson Building entfernt.
Unsere Unterkunft erwies sich als solides Mittelklasse-Hotel hinter einer Art-Déco-Fassade mit freundlichem Personal in äußerst zentraler Lage, direkt hinter Covent Garden gelegen.
Man hatte uns zwei modern möblierte Einzelzimmer auf dem gleichen Flur in der neunten Etage reserviert, die wir aber nur ganz kurz besichtigten, um unser Gepäck abzustellen und uns etwas frisch zu machen, ehe wir uns auf den Weg zum Symposium machen mussten, das um elf mit der Akkreditierung beginnen würde.
Das Backstein-Gebäude in der Southampton Street erwies sich mit einem Ladengeschäft im Erdgeschoss und Konferenzräumen im ersten Stock als eher untypisch für eine internationale Tagung. Doch die Organisation war hervorragend und so saßen wir schon pünktlich um zwölf, versorgt mit Kaffee und kalten Getränken, im ersten Vortrag einer jungen Genter Wissenschaftlerin, die uns über den aktuellen Forschungsstand zum Werk des belgischen Surrealisten Paul Delvaux informierte.
Im Zentrum ihrer Ausführungen stand das »Verblumen« der Frau in Delvaux‘ Gemälden, das Verschmelzen seiner meist nackten weiblichen Figuren mit der Natur bis hin zum Wurzelschlagen der in Baumstämme verwandelten Beine. Erstarrt und durch ihre Wurzeln fest am Boden gehalten, schien die weibliche Naturhaftigkeit gebändigt, wurden die Frauen zu statuenhaften Standbildern, an denen die akkurat gekleideten Herren vorbeiflanierten, ohne Notiz von ihnen zu nehmen.
Der reich bebilderte Vortrag erwies sich als schöner Einstieg ins Thema und auch die beiden nachfolgenden Beiträge über André Bretons surrealistischen Roman Nadja und den Begriff der konvulsivischen Schönheit waren äußerst interessant.
Das zweitägige Tagungsprogramm war in jeweils drei Blöcke mit je drei etwa halbstündigen Vorträgen gegliedert. Dazwischen gab es eine eineinhalbstündige Lunch Break und eine Tea Time am späten Nachmittag.
Unsere eigenen Referate waren für den dritten Block am Freitagabend vorgesehen, wobei Leander den Anfang machen und nach einer kurzen Diskussionsrunde an mich übergeben würde.
Während Leander ganz allgemein über die Weiblichkeitsideale der Surrealisten sprach, war mein Thema an diesem Abend die Androgynie.
Ich schlug einen Bogen von der Antike und der Antikenrezeption der Renaissance über den Symbolismus der Jahrhundertwende zum Surrealismus. Zum Einstieg zeigte ich mit dem so genannten Berliner Hermaphrodit aus dem Pergamon-Museum und Francesco Susinis Liegendem Hermaphroditen aus der Villa Borghese in Rom zwei der berühmtesten androgynen Marmorskulpturen der Kunstgeschichte. Dazu skizzierte ich den altgriechischen Mythos des Hermaphroditos nach Ovid, der als Sohn von Hermes und Aphrodite mit der Quellnymphe Salmacis zu einem
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