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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Skisachen enthielt. Nachdem ich erst mein Zimmer und dann ihres gesaugt hatte, war die Waschmaschine fertig, und ich verteilte die nassen Kleidungsstücke über sämtliche Heizkörper. Anschließend machte ich mir eine weitere Tasse Kaffee, obwohl ich von dem vielen Koffein schon leicht zappelig und in überdrehter Stimmung war.
    Ich legte eine CD auf und ließ mich auf dem Sofa nieder, fühlte mich aber ruhelos. Als ich unten jemanden eine Tür schließen hörte, kam mir der Gedanke, dass ich das Naheliegendste noch nicht getan hatte: Jos Nachbarn zu fragen, wann sie sie das letzte Mal gesehen hatten.
    Ich verließ die Wohnung und umrundete das Haus bis zum Eingang der Parterrewohnung. Ich klingelte. Nach wenigen Augenblicken öffnete sich die Tür einen Spalt breit, und ein Auge spähte zu mir heraus.

    »Hallo, ich bin Jos … Jos Mitbewohnerin, und ich …«
    Die Tür schwang ganz auf.
    »Ich weiß, wer Sie sind, meine Liebe. Jo hat uns vorgestellt, erinnern Sie sich nicht? Peter. Sie haben gesagt, Sie würden mich mal besuchen, haben es aber nie getan.«
    Er war ein sehr kleiner alter Mann, viel kleiner als ich, so dass ich mich fragte, ob er mit den Jahren geschrumpft war oder immer schon die Körpergröße eines vorpubertären Schuljungen hatte. Er trug einen gelben Pulli, der sich an einem Ärmel aufzutrennen begann, einen karierten Schal und Hausschuhe. Er hatte noch einen kleinen Rest grauer Haare auf dem Kopf und ein sehr knittriges, zerfurchtes Gesicht. »Kommen Sie«, sagte er.
    Ich zögerte. »Kommen Sie schon, stehen Sie nicht so ungemütlich vor der Tür. Herein mit Ihnen! Ich mache uns eine Tasse Tee. Nehmen Sie Platz, Gleich dort. Lassen Sie sich von der Katze nicht stören. Nehmen Sie Platz, und machen Sie es sich gemütlich. Bestimmt möchten Sie auch ein paar Kekse, nicht wahr? Zucker? Nehmen Sie Zucker?
    Sie waren die letzten Tage ziemlich viel unterwegs, nicht wahr? Ich habe Sie kommen und gehen sehen. Ich habe so viel Zeit, dass mir solche Dinge auffallen.«
    Im Raum war es extrem warm, und es herrschte eine penible Ordnung. Die Wände waren von Bücherregalen gesäumt. Er besaß die gesammelten Werke von Charles Dickens in einer sehr edel wirkenden, gebundenen Ausgabe. Ich ließ mich auf seinem weichen Ledersofa nieder und nahm den Tee entgegen, den er mir reichte. Die Katze zuckte im Schlaf zusammen. Sie sah wie der fette Tiger aus, den ich durch mein Fenster gesehen hatte.
    »Danke, Peter. Wunderbar. Frischen Sie mein Gedächtnis auf – wann genau haben wir uns kennen gelernt?«

    »Am Mittwoch«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen. »An dem Tag, an dem Sie hier eingetroffen sind. Ich war zufällig draußen auf dem Gehsteig, ein wenig Luft schnappen, als Sie gerade Ihre Sachen reintrugen und Jo uns vorstellte. Ich habe Sie eingeladen, mich doch zu besuchen, falls Ihnen langweilig sein sollte, aber Sie sind nie gekommen. Natürlich hatten Sie dann auch keine Gelegenheit mehr dazu, weil Sie ja weggefahren sind.«
    »Wann war das? Wann bin ich weggefahren?«
    »Sie haben wohl Ihr Gedächtnis verloren, was?« Er lachte fröhlich. »Ich habe Sie beide schon eine Weile nicht mehr gesehen. Waren Sie zusammen im Urlaub?«
    »Nicht direkt.«
    »Ist Jo auch wieder da? Ein nettes Mädchen, diese Jo.
    Immer hilfsbereit. Sie hat mich einmal ins Krankenhaus gefahren, nachdem ich in der Wohnung gestürzt war und mir das Bein gebrochen hatte. Sie hat mich sogar besucht.
    Niemand sonst ist gekommen, aber sie hat mich besucht und mir Blumen mitgebracht.«
    »Sie ist noch nicht zurück«, antwortete ich vage.
    »Ich bin schon sechsundachtzig«, erklärte er. »Finden Sie, dass man mir das ansieht?«
    »Nein«, log ich.
    »Meine Mutter ist fünfundneunzig geworden.
    Fünfundneunzig, und dann, eines Tages, peng und vorbei.
    Sie fehlt mir immer noch. Ich bin ein alter Mann und denke jeden Tag an meine Mum. Ich habe noch ihre Haarbürsten, müssen Sie wissen, schöne silberne Haarbürsten mit Elfenbeinrücken und echten Pferdehaaren. Das kriegt man heute gar nicht mehr. Und ihren Serviettenring, auch aus Silber, mit ihrem Namen auf der Innenseite. Sehr hübsch.«

    »Der Tee war jetzt genau das Richtige für mich. Vielen Dank.«
    »Sie wollen schon gehen? Ohne Keks?«
    »Ich komme bald wieder.«
    »Ich bin fast immer zu Hause.«

    Ich schlief sehr tief und träumte von einem Feueralarm.
    Ich konnte nicht sehen, wo das Feuer ausgebrochen war, und wusste auch nicht, in welche Richtung ich fliehen sollte.

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