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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Morgenstunden hat man oft düstere Gedanken.«
    »Es wird allmählich hell. Sie sind bestimmt schon schrecklich müde.«
    »Ist nicht so schlimm. Das kommt erst später, schätze ich.«
    »Mitten in Ihrer Besprechung.«
    »Wahrscheinlich.«
    »Wenn Sie wollen, kann ich fahren.«
    »Es geht schon noch. Sie müssen mich etwas unterhalten, dann bleibe ich wach.«
    »Ich werde mein Bestes tun.«
    »Als wir an Stonehenge vorübergefahren sind, hätte ich sie beinahe aufgeweckt. Aber wir kommen ja auf dem Rückweg noch mal vorbei.«
    »Ich war noch nie dort.«
    »Noch nie?«
    »Es ist erstaunlich, was ich alles noch nicht gesehen habe. Ich kenne weder Stonehenge noch Stratford noch Hampton Court. Weder Buckingham Palace noch Brighton Pier. Ich war nie in Schottland. Nicht einmal im Lake District. Ich hatte eine Venedig-Reise geplant und schon die Tickets besorgt. Während ich geknebelt in einem Keller lag, hätte ich eigentlich nach Venedig aufbrechen sollen.«
    »Eines Tages werden Sie hinfahren.«
    »Ja, vermutlich.«

    »Was war das Schlimmste?«, fragte er nach einer Pause.
    Ich sah zu ihm hinüber. Sein Blick war nach vorn gerichtet, auf die Straße und die sanft geschwungenen Hügel. Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee. Fast hätte ich ihm geantwortet, dass ich nicht darüber sprechen könne, doch dann schoss mir durch den Kopf, dass Ben der erste Mensch war, der mich nicht mit einem Ausdruck von Misstrauen oder Bestürzung ansah. Er behandelte mich nicht, als sei ich bemitleidenswert oder geistesgestört. Deswegen versuchte ich, ihm auf seine Frage eine Antwort zu geben. »Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen. Sein pfeifendes Lachen zu hören und zu wissen, dass er ganz in meiner Nähe war. Der Gedanke, dass ich nicht genug Luft bekam und ersticken, in mir selbst ertrinken würde. Es war –« Ich versuchte, den richtigen Ausdruck zu finden, »– irgendwie obszön.
    Vielleicht war es auch nur das Warten in der Dunkelheit und das Wissen, dass ich sterben würde. Ich versuchte, mich an bestimmte Dinge zu klammern, um nicht wahnsinnig zu werden – nicht an Dinge aus meinem eigenen Leben, denn ich war der Meinung, mich auf diese Weise bloß noch mehr zu quälen und erst recht vor Einsamkeit und Entsetzen wahnsinnig zu werden –, nein, eigentlich dachte ich nur an bestimmte Bilder. Ich habe Ihnen schon davon erzählt. Schöne Bilder aus der Welt da draußen. Manchmal, wenn ich nachts aufwache, denke ich immer noch an diese Bilder. Trotzdem wusste ich, dass ich Schritt für Schritt meiner Persönlichkeit beraubt wurde.
    Dass ich dabei war, mich selbst zu verlieren. Darum ging es ihm – zumindest glaube ich, dass es ihm darum ging.
    Ich sollte nach und nach all das abstreifen, was mich zu dem Menschen machte, der ich war, bis am Ende nur diese grauenerregende Kreatur übrig blieb, die auf einem Mauervorsprung vor sich hin lallte, halb nackt, schmutzig und gedemütigt.«
    Ich brach abrupt ab.
    »Wie wär’s, wenn Sie uns eine Orange schälen?«, wechselte Ben das Thema. »Sie liegen in der Tasche.«
    Ich schälte zwei von den Orangen, deren Aroma rasch den ganzen Wagen erfüllte. Meine Finger wurden klebrig von ihrem Saft. Ich reichte ihm einige Spalten. »Sehen Sie«, sagte er plötzlich. »Das Meer!«
    Es sah silbrig, weit und still aus. Man konnte kaum erkennen, wo das Wasser aufhörte und der Morgenhimmel begann – außer im Osten, wo die Sonne bereits ein blasses Licht spendete.
    »So, nun brauche ich Sie als Lotsin«, fuhr er fort.
    »Unsere Abzweigung muss gleich kommen.«
    Wir bogen rechts ab, weg von der Sonne, in eine kleine Straße, die zur Küste hinunterführte, dann links, in eine noch kleinere Straße.
    »Hier muss es sein«, erklärte Ben.
    Wir standen vor einem geschlossenen Tor, hinter dem ein schmaler Feldweg weiterführte. Ich stieg aus, öffnete das Tor, wartete, bis Ben hindurchgefahren war, und schloss es wieder.
    »Das Cottage gehört Jos Eltern?«
    »Ja. Sie kommen aber nicht mehr hierher. Ihr Vater ist zu krank, und es ist nicht sehr luxuriös ausgestattet.
    Deswegen sind sie immer froh, wenn jemand ein paar Tage hier verbringt. Es ist sehr einfach, ohne Zentralheizung, und mittlerweile auch schon ein wenig heruntergekommen. Aber vom Schlafzimmer aus kann man das Meer sehen. Dort vorne ist es.«
    Das Cottage war klein und aus grauem Stein. Es hatte dicke Mauern mit winzigen Fenstern. Ein Sturm hatte ein paar Dachziegel heruntergeweht, die nun in Scherben um die Eingangstür

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