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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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den ich gerade erst kennen gelernt habe, würde plötzlich verschwinden, nach zwei Wochen wieder auftauchen und behaupten, sich überhaupt nicht an mich erinnern zu können. Ich würde ihn für vollkommen verrückt halten. Oder für einen Lügner. Wie du weißt, ist die Polizei in meinem Fall zwischen diesen beiden Sichtweisen hin und her gerissen.«
    »Ich dachte erst, ich wäre verrückt. Dann dachte ich, du wärst es. Irgendwann kannte ich mich überhaupt nicht mehr aus.« Er streichelte mein Haar. Ich schauderte vor Behagen.
    »Ich wusste nicht, was ich tun sollte«, fuhr er fort. »Wie hätte ich es dir erklären sollen? Irgendwie war ich der Meinung, ich müsste dich dazu bringen, mich von neuem ins Herz zu schließen. Die Alternative wäre gewesen, zu dir zu sagen: ›Hör zu, du magst mich oder hast mich gemocht, auch wenn du dich nicht mehr daran erinnern kannst.‹ Das schien mir keine besonders gute Idee zu sein.«
    »Du hast keine Designerhände«, wechselte ich das Thema.
    »Du meinst, weil sie rau und schwielig sind?«
    »Das gefällt mir.«
    Er betrachtete seine Hände. »Ich baue viele meiner Prototypen selbst. Dabei schütte ich mir oft Chemikalien über die Hände. Sie bekommen auch mal einen Kratzer oder einen Hammerschlag ab, aber das macht mir nichts aus. Ich mag es so. Mein alter Herr ist Schweißer. Er hat sich daheim eine Werkstatt eingerichtet und verbringt seine Wochenenden damit, alles Mögliche auseinanderzubauen und wieder zusammenzusetzen.
    Wenn ich als Junge mit ihm kommunizieren wollte, konnte ich das nur, indem ich zu ihm in die Werkstatt ging und ihm den Schraubenschlüssel reichte oder das, was er gerade brauchte. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als mir die Hände schmutzig zu machen. Etwas anderes mache ich im Grunde heute auch nicht. Ich habe einen Weg gefunden, mich für das bezahlen zu lassen, was mein Dad als Hobby gemacht hat.«
    »Ganz so ist es bei mir nicht«, antwortete ich. »Weder, was meinen Dad, noch, was meine Arbeit betrifft.«
    »Du bist phantastisch in deinem Job. Du hast die ganze Sache wieder in Ordnung gebracht. Wir hatten alle einen Mordsrespekt vor dir.«
    »Manchmal kann ich nicht glauben, was ich tue – oder getan habe. Hast du gewusst, dass man für ein Büro eine Risikobeurteilung erstellen kann? Bei einer Ölbohrinsel oder einer Polarexpedition leuchtet das ja ohne weiteres ein, aber bei einem Büro? Trotzdem wollte die Versicherung eine Risikobeurteilung, also habe ich eine erstellt. Im Moment bin ich der Welt größte Expertin für alle furchtbaren Dinge, die einem in einem Büro passieren können. Hast du gewusst, dass sich in Großbritannien letztes Jahr einundneunzig Büroangestellte mit Tipp-Ex verletzt haben? Ich meine, wie schafft man es überhaupt, sich mit Tipp-Ex zu verletzen?«
    »Ich weiß genau, wie. Man benutzt es, bekommt etwas auf die Finger und reibt sich dann die Augen.«
    »Siebenunddreißig Leute haben sich mit ihren Taschenrechnern Verletzungen zugezogen. Wie schafft man das? Die Dinger wiegen höchstens so viel wie ein Eierkarton. Ich könnte diesen Menschen ein, zwei interessante Sachen zum Thema Risiko erzählen.«
    Plötzlich erschien mir das Ganze nicht mehr so amüsant.
    Ich setzte mich auf. »Ich schätze, wir sollten beide allmählich in die Gänge kommen«, meinte ich mit einem Blick auf die Uhr.
    Wir gingen zusammen unter die Dusche, bewiesen dabei aber große Disziplin, indem wir uns darauf beschränkten, einander zu waschen und hinterher abzutrocknen. Dann halfen wir uns gegenseitig beim Anziehen. Ben anzuziehen war fast so aufregend wie ihn auszuziehen. Er hatte es definitiv besser als ich, weil er in frische Sachen schlüpfen konnte. Ich trug noch die vom Vorabend. Ich musste in die Wohnung zurück, um mich umzuziehen.
    Ben wuschelte mir durchs Haar und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
    »Ein komisches Gefühl, dich in Jos Sachen zu sehen«, bemerkte er.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Wir haben wohl einen ähnlichen Geschmack«, entgegnete ich. »Das sind meine eigenen Sachen. Die Bluse habe ich getragen, als ich entführt wurde. Erst wollte ich sie in den Müll werfen – dachte mir aber, schade um das schöne Stück. Selbst wenn ich die Sachen verbrenne, werde ich deswegen nicht weniger an das Ganze denken …«
    »Die Bluse hast du von Jo. Sie hat sie in Barcelona gekauft. Es sei denn, du warst auch in Barcelona beim Shoppen.«
    »Bist du sicher?«
    »Ganz sicher.«
    Ich verstummte. Meine Gedanken rasten.

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