In seiner Hand
»Warten Sie’s ab!«
Am liebsten hätte ich den Hörer auf die Gabel geknallt, aber es handelte sich um eines jener schnurlosen Telefone, bei denen das nicht mehr möglich ist, so dass ich mich darauf beschränken musste, besonders heftig auf den Aus-Knopf zu drücken.
»O Abbie, Abbie, Abbie! Wie kann man nur so dumm sein!«, hörte ich mich selbst stöhnen. Tröstliche Worte.
20
Ich wusste, dass Jo tot war. Egal, was Cross sagte, ich wusste es einfach. Ich musste an das Geflüster in der Dunkelheit denken: »Kelly, Kath. Fran. Gail. Lauren.«
Lauren war Jo. Sie hatte ihm nie gesagt, wie sie für ihre Lieben hieß, ihm stattdessen den Namen einer Fremden genannt. Auf diese Weise hatte sie versucht, ein menschliches Wesen zu bleiben, nicht verrückt zu werden.
Jetzt konnte er seiner Litanei einen weiteren Namen hinzufügen: Sally. Obwohl Sally für ihn vielleicht nicht zählte. Er hatte sie nur aus Versehen getötet. An ihrer Stelle hätte eigentlich ich sterben sollen. Ich schauderte.
Niemand wusste, wo ich war, mit Ausnahme von Carol bei Jay & Joiner und Peter ein Stockwerk tiefer. Und Cross und natürlich Ben. Ich sagte mir, dass ich in Sicherheit war, auch wenn ich mich alles andere als sicher fühlte.
Ich zog im großen Zimmer die Vorhänge zu und hörte die neuen Nachrichten auf Jos Anrufbeantworter ab. Es waren nicht viele, ein Anruf von einer Frau, die erklärte, Jos Vorhänge seien fertig, sie könne sie abholen, und ein zweiter von einem Mann namens Alexis, der sie mit
»Hallo, Fremde, lange nicht gesehen« begrüßte und dann fortfuhr, er sei endlich wieder im Lande und vielleicht könne man sich bald mal treffen.
Ich öffnete den Brief, der an diesem Morgen für sie gekommen war – eine Aufforderung, ihr National Geographic- Abo zu verlängern. Ich erledigte das für sie.
Dann rief ich Sadie an, wobei ich von vornherein davon ausging, dass sie nicht zu Hause sein würde, und sprach ihr aufs Band, dass sie mir fehle und dass wir uns unbedingt bald sehen müssten. Während ich das sagte, wurde mir bewusst, dass es stimmte. Ich hinterließ eine ähnliche Nachricht auf dem Anrufbeantworter von Sheila und Guy. Sam schickte ich eine fröhliche, wenn auch etwas vage E-Mail. Ich war noch nicht wieder in der Verfassung für ein Gespräch oder ein Treffen mit ihnen, wollte aber den Kontakt nicht abreißen lassen.
Anschließend machte ich mir ein Avocado-Schinken-Mozzarella-Sandwich. Ich hatte nicht wirklich Hunger, aber es tat mir gut, das Sandwich zuzubereiten und mich anschließend damit aufs Sofa zu setzen und das weiche Brot zu kauen, ohne an etwas Bestimmtes zu denken.
Mein Versuch, alle Gedanken auszublenden und einen völlig leeren Kopf zu bekommen, endete damit, dass ich wieder die Bilder sah, die ich heraufbeschworen hatte, als ich im Dunkeln gefangen gehalten wurde: den Schmetterling, den Fluss, den See, den Baum. Ich stellte sie gegen die ganze Hässlichkeit, die ganze Angst. Mit geschlossenen Augen wartete ich, bis mein Kopf mit diesen schönen Bildern der Freiheit erfüllt war. Dann hörte ich mich plötzlich laut sagen: »Aber wo ist die Katze?«
Ich wusste nicht, wo diese Frage hergekommen war, die nun wie ein großes Fragezeichen in dem stillen Raum schwebte. Ich begann zu überlegen. Jo hatte keine Katze.
Die Einzige, die ich in der Gegend gesehen hatte, war die von Peter, der Tiger mit den bernsteinfarbenen Augen, der mich nachts aufgeweckt und erschreckt hatte. Doch während ich über die Frage nachdachte, bekam ich ein ganz seltsames Gefühl, eine Art Kribbeln in meinem Gehirn, als würde eine vage Erinnerung an meinem Bewusstsein kratzen.
Warum hatte ich an eine Katze denken müssen? Weil Jo Dinge besaß, die zu einer Katze gehörten. Dinge, die ich gesehen hatte, ohne sie richtig wahrzunehmen. Wo? Ich ging in den Küchenbereich, öffnete Schränke, zog Schubladen heraus. Nichts. Dann fiel es mir wieder ein, und ich eilte zu dem großen Schrank neben dem Bad, wo ich auf den Staubsauger und Jos Skisachen gestoßen war.
Neben der Mülltüte mit Skiklamotten fand ich ein Katzenklo, das ganz neu aussah, vielleicht aber nur blitzblank geschrubbt war, und sechs kleine Dosen Katzenfutter. Ich kehrte zum Sofa zurück, wo ich nach meinem Sandwich griff, es aber gleich wieder hinlegte.
Na und? Jo hatte mal eine Katze gehabt. Vielleicht gab es die Katze immer noch, und sie hatte sich abgesetzt, weil ihr Frauchen verschwunden war und niemand mehr da war, der sie fütterte und
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