In seiner Hand
Das war wichtig. Es hatte etwas zu bedeuten. Aber was?
Vor der Tür küssten wir uns noch einmal. Am liebsten hätte ich ihn gar nicht mehr losgelassen. Wenn ich einfach an ihm hängenblieb, würde mir niemand etwas tun können. Dann rief ich mich selbst zur Ordnung. Ich durfte mich nicht so gehen lassen.
»Ich muss in die schreckliche Welt zurück«, erklärte ich.
»Was wirst du tun?«
»Zunächst nach Hause gehen – ich meine, zu Jo – und mich umziehen. Ich kann nicht noch einen Tag in diesen Kleidern herumlaufen.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Ich bin nicht sicher. Heute oder morgen wird dieser Mann feststellen, dass er die Falsche umgebracht hat. Er wird sich wieder auf die Suche nach mir begeben.
Vielleicht kann ich herausfinden, wo Jo ist. Obwohl ich nicht weiß, ob das irgendetwas bringen wird.«
Ben spielte gedankenverloren mit seinem Autoschlüssel herum. »Ich werde heute ihre Eltern anrufen«, sagte er.
»Inzwischen müssten sie eigentlich zurück sein. Dann sehen wir weiter.«
Ich küsste ihn. Ich musste mich dazu auf die Zehenspitzen stellen. »Das heißt ›danke‹«, erklärte ich.
»Und dass du dir meinetwegen keine Umstände zu machen brauchst.«
»Jetzt hör aber auf, Abbie. Ich rufe dich später an.« Er reichte mir seine Visitenkarte, und wir müssten beide über diese formelle Geste lachen. »Du kannst mich jederzeit unter einer dieser Nummern erreichen.«
Wir küssten uns wieder. Ich spürte, wie seine Finger zu meiner Brust hinauf wanderten. Rasch legte ich meine Hand auf seine. »Ich denke gerade an diesen Mann aus Amsterdam«, sagte ich.
Ich lag in der Badewanne, einen Waschlappen auf dem Gesicht, und versuchte mir vorzustellen, was er jetzt wohl dachte. Demnächst würde er erfahren, dass ich noch am Leben war. Vielleicht wusste er es bereits. Aber es gab noch etwas. Dieser leichtsinnige Anruf auf meinem eigenen Handy. Er hatte es behalten, als eine Art Trophäe.
Und ich hatte mich als Jo ausgegeben. Ob er glaubte, dass ich ihm auf der Spur war?
Ich vergriff mich an Jos Kleiderschrank, suchte mir bewusst Kleider aus, die sich von meinem früheren Kleidungsstil vollkommen unterschieden, eine graue Kordhose und einen dicken cremefarbenen Strickpulli.
Abbie Devereaux musste weiterhin verschwunden bleiben, tot und begraben. Ich würde nur eine von den unzähligen Frauen sein, die in London herumliefen. Wie sollte er mich finden? Andererseits – wie sollte ich ihn dann finden?
Dann tat ich das, was ich schon längst hätte tun sollen.
Ich hatte die Nummer im Kopf. Terrys Vater nahm ab.
»Ja?« meldete er sich.
»Richard, hier ist Abbie.«
»Abbie.« Sein Ton war höflich, aber frostig.
»Ja, hör zu, ich weiß, wie schrecklich das alles im Moment für euch sein muss …«
»So, weißt du das?«
»Ja. Und es tut mir Leid für Terry.«
»Ein starkes Stück, dass ausgerechnet du das sagst!«
»Haben sie ihn schon auf freien Fuß gesetzt?«
»Nein, bis jetzt noch nicht.«
»Ich wollte nur sagen, dass ich weiß, dass er es nicht war, und dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um ihm zu helfen. Vielleicht könntest du das seinem Anwalt sagen.«
»Das werde ich.«
»Ich gebe dir meine Nummer. Oder nein, ich rufe dich wieder an oder Terry, wenn er zurück ist. In Ordnung?«
»Ja.«
Wir schwiegen beide einen Moment, dann verabschiedeten wir uns.
Ich stand in Jos Wohnküche und sah mich um. Wenn man krampfhaft nach etwas sucht, beginnt irgendwann diese schreckliche Phase, in der man anfängt, überall dort, wo man bereits nachgesehen hat, ein zweites Mal nachzusehen. Noch schlimmer war, dass ich gar nicht wusste, wonach ich eigentlich suchte. Ein Tagebuch wäre hilfreich gewesen. Es hätte mir Aufschluss über ihre Pläne geben können, doch ich hatte in ihrem Schreibtisch nichts gefunden. Ziellos wanderte ich im Raum herum, nahm Gegenstände aus den Regalen und stellte sie wieder zurück. In dem Fach neben dem Fenster stand eine Topfpflanze. Meine Mutter hätte sie identifizieren können, bestimmt sogar ihren lateinischen Namen gewusst, aber selbst ich konnte sehen, dass sie am Vertrocknen war. Die Erde war hart und von Rissen durchzogen. Ich holte ein Glas Wasser aus der Küche und goss vorsichtig die traurige Pflanze. Das Wasser lief in die Erdrisse hinein.
Würde eine verantwortungsvolle junge Frau wie Jo einfach in Urlaub fahren und ihre Pflanzen vertrocknen lassen? Ich goss auch den Banyanbaum.
Alles, was ich an Beweisen fand, ähnelte
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