In seiner Hand
Vaters. Ich rannte aus dem Wohnzimmer in Jos Schlafzimmer hinüber und griff im Laufen nach meiner Tasche und meinem Schlüsselbund.
Es läutete erneut, zweimal kurz und heftig.
Ich fummelte ein paar Sekunden am Riegel herum, ehe es mir gelang, das Fenster hochzuschieben. Ich lehnte mich hinaus. Bis in Peters kleinen, verwucherten Garten waren es nur zweieinhalb Meter, aber es schien trotzdem schrecklich tief, und unter dem Fenster war der Boden betoniert. Ich überlegte, ob ich ins Wohnzimmer zurückkehren und die Polizei anrufen sollte, aber alles in mir drängte zur Flucht. Ich kletterte auf das Fensterbrett und drehte mich um, so dass ich mit dem Gesicht zum Haus kauerte. Ich holte einmal tief Luft und stieß mich ab.
Ich landete sehr unsanft, spürte die Wucht des Aufpralls mit dem ganzen Körper, verlor dabei das Gleichgewicht und schrammte ein paar Sekunden lang mit ausgestreckten Armen über den kalten Betonboden. Dann richtete ich mich auf und rannte los. Ich bildete mir ein, aus der Wohnung ein Geräusch zu hören. Meine Beine fühlten sich bleiern an, es kam mir vor, als könnte ich sie kaum dazu bringen, sich zu bewegen, als müsste ich sie mit aller Kraft über den durchweichten Rasen schleppen. Es war wie in einem Traum – einem Alptraum, in dem man rennt und rennt, ohne voranzukommen.
Der Garten wurde von einer hohen Mauer begrenzt. Sie war von zahlreichen Rissen durchzogen, und an einigen Stellen hatten sich Stücke aus dem brüchig gewordenen Mauerwerk gelöst. Eine Kletterpflanze, deren dunkelrote Äste bereits dick wie Schläuche waren, rankte in die Höhe. Ich fand ein Loch für eine Hand, für einen Fuß, versuchte mich hinaufzuziehen, glitt jedoch aus. Erst beim zweiten Versuch fand ich genug Halt. Ich hörte mich keuchen, oder war es ein Schluchzen? Ich konnte es nicht sagen. Schließlich hatte ich es geschafft, meine Hände erreichten den oberen Rand der Mauer, ich schwang erst das eine Bein hinüber, dann das zweite. Ohne zu überlegen, ließ ich mich in den angrenzenden Garten fallen, wo ich mit schmerzhaft verdrehtem Knöchel aufkam. Während ich mich aufrichtete und zu dem kleinen Weg humpelte, der auf die Straße hinausführte, sah ich aus dem Erdgeschoss des Hauses ein Frauengesicht zu mir herausspähen.
Ich wusste nicht, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Im Grunde war es egal, Hauptsache, ich verschwand von hier. Obwohl mein Knöchel höllisch schmerzte, eilte ich im Laufschritt die Straße entlang. Ich spürte, wie mir das Blut an der Wange hinunterlief. Ein paar Meter weiter hielt ein Bus an. Ich humpelte auf ihn zu und sprang auf, als er gerade wieder losfuhr. Obwohl mehrere Bänke frei waren, setzte ich mich neben eine Frau mit einem Einkaufskorb und blickte mich ängstlich um.
Niemand war mir gefolgt.
Der Bus fuhr nach Vauxhall. Ich stieg am Russell Square aus und ging ins British Museum. Ich war seit meiner Kindheit nicht mehr dort gewesen. Alles war ganz anders, als ich es in Erinnerung gehabt hatte. Der Hof wurde von einem großen Glasdach überspannt, und Licht flutete auf mich herab. Ich ging durch Räume mit antiken Töpferwaren, Räume mit großen Steinskulpturen, ohne die Ausstellungsstücke zu registrieren. Schließlich gelangte ich in einen Raum, der von großen, ledergebundenen Büchern gesäumt war. Einige waren auf Ständern ausgestellt und aufgeschlagen, damit die Besucher die kunstvollen Buchmalereien bewundern konnten. Das Licht in diesem Raum war weich, die Atmosphäre ruhig. Wenn überhaupt jemand etwas sagte, dann im Flüsterton. Ich saß eine ganze Stunde dort und starrte auf die Bücherreihen, ohne etwas wahrzunehmen. Ich ging erst, als das Museum schloss. Mir war klar, dass ich nicht mehr nach Hause zurückkehren konnte.
21
Als ich aus dem Museum trat, wurde mir bewusst, dass ich fror. Ich war ohne Jacke aus der Wohnung geflohen, trug nur einen leichten Pulli. Deshalb ging ich in der Oxford Street in den erstbesten Laden und verschwendete fünfzig Pfund für eine rote Steppjacke, in der ich aussah, als sollte ich eigentlich auf einem Bahnsteig stehen und mich um Zugnummern kümmern. Immerhin war sie warm. Ich fuhr mit der U-Bahn in den Norden der Stadt und stand kurze Zeit später vor Bens Haus. Doch er war nicht zu Hause.
Ich betrat ein Café, bestellte einen teuren Milchkaffee und gestattete mir nachzudenken.
Jos Wohnung war von nun an tabu für mich. Er hatte mich wiedergefunden und gleich wieder verloren, zumindest vorübergehend. Ich
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