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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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zermarterte mir den Kopf nach einer anderen Möglichkeit, aber es gab keine. Ein Mann hatte sich Carol gegenüber als mein Vater ausgegeben und ihr auf diese Weise meine Adresse entlockt. Ich unternahm einen schwachen Versuch, in die Rolle eines skeptischen Polizisten zu schlüpfen.
    Ich versuchte mir einen wütenden Kunden vorzustellen oder einen unserer Subunternehmer, der mich so dringend persönlich sprechen wollte, dass er zu dieser ausgefeilten List gegriffen hatte, doch das war Unsinn. Es konnte sich nur um ihn handeln. Was würde er nun tun? Er hatte herausgefunden, wo ich wohnte, wusste aber nicht, dass ich das wusste. Zumindest nahm ich an, dass er es noch nicht wusste. Vielleicht glaubte er, dass ich unterwegs war und er nur auf mich zu warten brauchte. Falls dem so war, konnte ich jetzt die Polizei anrufen, sie konnten hinfahren und ihn verhaften, und alles wäre vorbei.

    Dieser Gedanke war so verlockend, dass ich mich kaum zurückhalten konnte. Der Haken an der Sache war, dass Jack Cross definitiv nur noch einen Millimeter davon entfernt war, endgültig die Geduld mit mir zu verlieren.
    Wenn ich jetzt wegen irgendeines Verdachts die Polizei rief, konnte es sein, dass sie gar nicht kommen würden.
    Und wenn doch, würden sie womöglich feststellen, dass er nicht da war. Was sollte ich dann zu ihnen sagen: Schnappt euch den nächstbesten Mann, der gerade des Weges kommt, und fragt ihn, ob er mein Entführer ist?
    Ich trank meinen Kaffee aus und ging zu Bens Wohnung zurück. Es brannte noch immer kein Licht. Da ich nicht wusste, was ich tun sollte, trieb ich mich vor dem Haus herum, stampfte mit den Füßen auf und rieb mir die Hände, um mich zu wärmen. Und wenn Ben noch eine Besprechung hatte? Wenn er plötzlich beschlossen hatte, sich mit jemandem auf einen Drink zu treffen, zum Essen oder ins Kino zu gehen? Ich versuchte, mir eine andere Übernachtungsmöglichkeit einfallen zu lassen, begann im Geiste eine Liste von Freunden zusammenzustellen, die ich überfallen konnte. Abigail Devereaux, die fliegende Holländerin, die von Haus zu Haus wanderte, auf der Suche nach einer Mahlzeit und einem Bett für die Nacht.
    Die Leute würden sich hinter dem Sofa verstecken, wenn ich an der Tür klingelte. Als Ben schließlich die Treppe heraufkam, tat ich mir schon selbst richtig Leid.
    Er blickte überrascht hoch, als ich aus dem Schatten trat, und ich begann mich prompt für meine Anwesenheit zu entschuldigen, doch mitten in meiner Entschuldigung brach ich in Tränen aus, was mich mit großer Wut auf mich selbst erfüllte, weil ich mich so erbärmlich aufführte, so dass ich anfing, mich wegen meiner Tränen zu entschuldigen. Ben stand also auf der Treppe vor seiner Wohnung und sah sich mit einer schluchzend vor sich hinstammelnden Frau konfrontiert. Recht viel schlimmer konnte es nicht mehr werden. Trotz alledem schaffte er es, die Arme um mich zu legen, seinen Schlüssel aus der Tasche zu fischen und die Tür aufzusperren. Ich wollte ihm erklären, was in Jos Wohnung passiert war, brachte aber keinen zusammenhängenden Satz heraus, entweder weil ich vor Kälte nur so schlotterte oder weil mein Vorhaben, es laut auszusprechen, mir erst richtig klar machte, wie beängstigend das Ganze gewesen war. Ben murmelte mir beruhigende Worte ins Ohr, führte mich ins Bad und drehte an der Wanne die Wasserhähne auf. Dann begann er die Reißverschlüsse und Knöpfe meiner Sachen zu öffnen.
    »Schöne Jacke«, meinte er.
    »Mir war kalt«, antwortete ich.
    »Nein, wirklich.«
    Er zog mir meinen Pulli über den Kopf und befreite mich aus meiner Hose. Mein Blick fiel auf mein Spiegelbild. Ich hatte von der Kälte ein rotes Gesicht und vom Weinen gerötete Augen. Mein ganzer Körper wirkte rot und wund, als wäre mir mit meinen Kleidern auch die Haut abgezogen worden. Das heiße Badewasser brannte im ersten Moment, fühlte sich dann aber wundervoll an.
    Am liebsten hätte ich die Wanne nie wieder verlassen und den Rest meiner Tage wie ein urzeitliches Sumpflebewesen im Wasser verbracht. Ben verschwand und kehrte mit zwei großen Tassen Tee zurück, die er auf dem Wannenrand abstellte. Dann begann er sich auszuziehen. Eine gute Idee, fand ich. Er kletterte zu mir herein, verschränkte seine Beine in meine und benahm sich ansonsten wie ein vollendeter Gentleman: Er setzte sich nämlich auf die Seite mit den Wasserhähnen.
    Nachdem er einen Waschlappen über sie drapiert hatte, konnte er sich einigermaßen bequem

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