In seiner Hand
Bettdecke glatt zu streichen. Selbst das nahm nur knapp eine Stunde in Anspruch. Noch immer galt es, einen leeren Tag zu füllen, bis Ben zurückkommen würde. Das bot mir Gelegenheit, meine Zeit auf eine Weise zu verbringen, wie ich es schon immer vorgehabt, aus Zeitmangel aber nie geschafft hatte: Ich konnte mich auf ein Sofa lümmeln, Kaffee trinken, Musik hören, ein Buch lesen und mich wie eine Frau mit Muße fühlen.
Frauen mit Muße hörten bestimmt nicht die klimpernde Popmusik, die den Großteil meiner eigenen Sammlung ausmachte. Sie verlangten nach etwas Kultivierterem. Ich ging Bens CDs durch, bis ich auf etwas stieß, das jazzig und anspruchsvoll aussah. Ich legte es ein. Es klang sehr erwachsen, ein bisschen wie ein Soundtrack zu einem Film, auf jeden Fall nicht wie etwas, das man sich einfach so anhörte, doch das war mir ganz recht so. Ich wollte in erster Linie lesen und Kaffee trinken und brauchte die Musik lediglich als Hintergrund. Das Problem mit so einem ganzen freien Tag war, sich auf ein bestimmtes Buch festzulegen. Ich war nicht in der Stimmung, mich mit einem ernsten Buch auseinanderzusetzen, und es hatte auch keinen Sinn, einen dicken Thriller in Angriff zu nehmen. Während ich einen Band nach dem anderen aus dem Regal zog und inspizierte, wurde schnell klar, dass ich gar nicht richtig in der Stimmung war, eine echte Frau mit Muße zu sein. Trotz meiner ausgiebigen Dusche und meines leeren Terminkalenders war ich noch immer sehr aufgeregt. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren, konnte nicht aufhören, an die eine Sache zu denken, die ich eigentlich aus meinem Kopf verbannen wollte.
Ben besaß einen Stapel Fotobücher, die ich unentschlossen durchblätterte. Es fiel mir schwer, mich auf eines festzulegen. Schließlich entschied ich mich für das dickste, eine Sammlung von Fotos aus dem neunzehnten Jahrhundert. Es waren Bilder von exotischen Landschaften und dramatischen Ereignissen, Schlachten und Revolutionen und Katastrophen, aber ich achtete nur auf die Gesichter der abgebildeten Männer, Frauen und Kinder. Manche wirkten beunruhigt oder angstvoll.
Andere feierten auf Jahrmärkten oder Festen. Hin und wieder blickte sich ein Gesicht mit einem verschwörerischen Lächeln nach der Kamera um.
Was mir am meisten auffiel, war die Fremdheit dieser Gesichter. Ich musste daran denken – und konnte plötzlich an gar nichts anderes mehr denken –, dass all diese Menschen, die schönen und die hässlichen, die reichen und die armen, die Glückspilze und die Pechvögel, die bösen und die tugendhaften, die frommen und die gottlosen, eines gemeinsam hatten: Sie waren tot. Jeder einzelne von ihnen war irgendwo gestorben, letztendlich ganz allein, auf einer Straße, auf einem Schlachtfeld oder in einem Bett. All die Menschen in jener Welt gab es nicht mehr. Ich dachte über diese Tatsache nach, aber es war mehr als ein bloßes Nachdenken, eher eine schmerzhafte Empfindung, wie Zahnweh. Das war ein Teil dessen, worüber ich hinwegkommen musste. Ich ließ den Blick zu den höheren Regalfächern hinaufwandern, über die Rücken der kleineren Bücher, die keine Bilder enthielten.
Lyrik. Genau das brauchte ich jetzt. Wahrscheinlich hatte ich seit meiner Schulzeit höchstens zehn Gedichte in die Hände bekommen, doch nun empfand ich plötzlich das dringende Bedürfnis, ein Gedicht zu lesen. So ein Gedicht hatte außerdem den Vorteil, dass es kurz war.
Ben war offensichtlich auch kein großer Lyrikleser, aber es gab in seiner Sammlung ein paar Anthologien von der Art, wie sie Großeltern und Paten gern verschenken, wenn ihnen nichts anderes mehr einfällt. Die meisten von ihnen wirkten auf mich wie Schulbücher oder behandelten Themen, die mich nicht interessierten, wie zum Beispiel das Landleben, das Meer oder die Natur im Allgemeinen.
Dann aber fiel mein Blick auf einen Band mit dem Titel Gedichte von Sehnsucht und Verlust, und obwohl ich mir vorkam wie ein Alkoholiker, der nach einer Wodkaflasche griff, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Ich ließ mich mit meinem Kaffee auf der Couch nieder und tauchte in das Buch ein. Die Bedeutung der einzelnen Gedichte drang kaum in mein Bewusstsein. Stattdessen schien mir das Ganze eine ineinander verschwimmende Anhäufung von Kummer, Bedauern und Sehnsucht zu sein, unterlegt von grauen Landschaften. Ich kam mir vor wie bei einer Party, wo sich Depressive versammelt hatten, aber das war ein gutes Gefühl. Mein Versuch, so zu tun, als wäre ich
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