In seiner Hand
glücklich und entspannt, war ein Fehler gewesen. Viel besser war es festzustellen, dass es noch andere verlorene Seelen gab, die ähnlich fühlten wie ich. Ich befand mich unter Freunden, und nach einer Weile ertappte ich mich dabei, wie ich lächelte, weil mir die beschriebenen Empfindungen so vertraut waren.
Da mir das Buch so gut gefiel, blätterte ich zum Anfang zurück, um zu sehen, wer diesen wundervoll düsteren Band zusammengestellt hatte, und fand bei dieser Gelegenheit heraus, dass jemand eine Widmung auf die Titelseite geschrieben hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde hörte ich eine innere Stimme flüstern, dass es falsch war, die Widmung zu lesen. Ich ignorierte die Warnung. Schließlich hatte ich nicht in Bens Schreibtisch herumgestöbert und dabei sein Tagebuch oder alte Liebesbriefe gefunden. Eine Buchwidmung ist wie eine Postkarte, die man an eine Wand gepinnt hat. Selbst wenn sie an eine einzelne Person gerichtet ist, handelt es sich doch um eine Art öffentliche Erklärung. Zumindest redete ich mir das in diesem Sekundenbruchteil ein, doch als ich sah, dass die ersten drei Worte »Ben, mein Liebster«
lauteten, begann ich zu ahnen, dass es wohl doch nicht als öffentliche Erklärung gedacht war, aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits weitergelesen: »Ben, mein Liebster. Dieses Buch enthält traurige Worte, die meine Gefühle besser zum Ausdruck bringen, als ich das könnte.
Das alles tut mir so Leid, und du hast wahrscheinlich Recht, aber ich fühle mich trotzdem wie entzweigerissen und in vielerlei Hinsicht ganz furchtbar. Und so etwas als Widmung in ein Buch zu schreiben, ist auch furchtbar. All meine Liebe, Jo.«
Die Widmung war mit November 2001 datiert.
Kein noch so winziger Teil von mir zog auch nur ansatzweise in Betracht, dass es sich um eine andere Jo handeln könnte. Ich hatte mehrere Tage in ihrer Wohnung verbracht und überall ihre Schrift gesehen, auf Einkaufslisten, Notizzetteln, Hüllen von Videokassetten.
Ich kannte diese Schrift fast so gut wie meine eigene. Mir wurde plötzlich siedend heiß, bis in die Finger- und Zehenspitzen, und dann begann ich heftig zu zittern.
Dieser verdammte Ben. Dieser verfluchte Ben. Er hatte mir alles über diese Leah erzählt, recht empfindlich getan, was ihre Beziehung betraf, mir beschrieben, was für eine schöne Frau sie gewesen sei und all das, und hatte dabei das unwichtige kleine Detail zu erwähnen vergessen, dass er nach der Trennung von ihr rein zufällig die Frau gevögelt hatte, in deren Wohnung ich zur Zeit wohnte –
die Frau, die rein zufällig vor kurzem verschwunden war.
Ich musste daran denken, wie er an ihrer Tür geklingelt hatte. Die beiden waren Freunde, da war das keine große Sache. Wir hatten viel Zeit damit verbracht, uns zu fragen, wo Jo sein könnte. Jedenfalls hatte ich mich das gefragt.
Was hatte er sich dabei gedacht? Fieberhaft ließ ich im Geist die Gespräche Revue passieren, die ich mit ihm geführt hatte. Was hatte er über Jo gesagt? Er hatte sie im selben Bett gevögelt wie mich, es aber nicht für nötig gehalten, das zu erwähnen. Wobei er anfangs ja auch nicht erwähnt hatte, dass er mich bereits vor meinem Verschwinden gevögelt hatte. Was er mir sonst wohl noch alles verschwieg?
Ich versuchte mir harmlose Erklärungen für seine Geheimniskrämerei zu überlegen. Er wollte mich nicht aufregen. Vielleicht wäre es peinlich gewesen. Doch die anderen Gründe drängten sich immer wieder in den Vordergrund. Ich musste in Ruhe über alles nachdenken, das Chaos in meinem Kopf auseinandersortieren. Ich begann im Geist bereits, mir verschiedene Geschichten zu erzählen, und jede von ihnen machte es dringend erforderlich, dass ich so schnell wie möglich aus Bens Haus verschwand. Ich warf einen Blick auf meine Uhr.
Der Tag erschien mir gar nicht mehr so lang. Ich lief in Bens Schlafzimmer und riss mir meine Sachen – seine Sachen – vom Leib, als wären sie verseucht. Dabei murmelte ich wie eine Geisteskranke vor mich hin. Ich war nicht sicher, ob ich es schaffen würde, eine sinnvolle Erklärung für all das zu finden, aber das Einzige, was Jo und ich definitiv gemeinsam hatten, war die Tatsache, dass wir eine sexuelle Beziehung mit Ben gehabt hatten. Nicht nur das – wir hatten beide mehr oder weniger kurz vor unserem Verschwinden eine sexuelle Beziehung mit ihm gehabt. Rasch schlüpfte ich in meine eigene Kleidung. Es ergab einfach keinen Sinn. Ich musste anderswo darüber nachdenken, an einem
Weitere Kostenlose Bücher