Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
Nesseln und Dornbüsche. Müll lag verstreut herum.
    »Es war hier, nicht wahr?«
    »Nummer zweiundvierzig«, antwortete Cross und deutete auf die andere Straßenseite. »Hier haben Sie Anthony Russell aus dem Nachtschlaf gerissen und halb zu Tode erschreckt. Können Sie sich wenigstens noch daran erinnern?«
    »Nur undeutlich«, antwortete ich. »Zu dem Zeitpunkt war ich völlig panisch. Ich hatte das Gefühl, dass er mir unmittelbar auf den Fersen war. Ich habe so viele Haken geschlagen wie möglich, um ihn abzuschütteln.«
    Ich blickte zu dem Haus hinüber. Es sah kaum verlassener aus als die übrige Straße. Cross beugte sich in den Wagen und holte einen Anorak heraus. Ich trug eine seltsame Zusammenstellung fremder Klamotten, die man im Krankenhaus für mich aufgetrieben hatte. Ich versuchte, nicht an die Frauen zu denken, die sie vor mir getragen hatten. Cross gab sich freundlich und entspannt.
    Fast hätte man meinen können, wir würden zu einem Pub spazieren.
    »Ich hatte gehofft, wir könnten Ihren Fluchtweg zurückverfolgen«, erklärte er. »Aus welcher Richtung sind Sie gekommen?«
    Das war leicht. Ich deutete die Straße hinunter.
    »Das ergibt Sinn«, meinte er. »Lassen Sie uns in diese Richtung gehen.«
    Wir gingen die Straße entlang.
    »Dieser Mann«, sagte ich. »Der aus Nummer zweiundvierzig.«
    »Russell. Tony Russell.«
    »Hat er ihn gesehen?«
    »Er ist kein sehr hilfreicher Zeuge«, antwortete Cross.
    »Der alte Tony Russell. Er hat sofort die Tür zugeknallt und die Notrufnummer gewählt.«
    Ich rechnete damit, am Ende der Straße auf weitere Straßen mit Reihenhäusern zu treffen, doch plötzlich standen wir an der Ecke eines riesigen, baufälligen Anwesens, bei dem die Fenster eingeschlagen und die meisten Türen mit Brettern vernagelt waren. Direkt vor uns befanden sich zwei offene, bogenförmige Durchgänge, von denen straßabwärts weitere folgten.
    »Was ist das?« fragte ich.
    »Das Browning-Anwesen«, antwortete Cross.
    »Wohnt hier noch jemand?«
    »Es soll demnächst abgerissen werden. Eigentlich soll es schon seit zwanzig Jahren abgerissen werden.«
    »Warum?«
    »Weil es ein einziges Dreckloch ist.«
    »Hier muss ich gefangen gehalten worden sein.«
    »Können Sie sich erinnern?«
    »Ich bin aus dieser Richtung gekommen.« Verzweifelt ließ ich den Blick auf und ab schweifen. »Ich bin unter einem dieser Torbogen hindurchgelaufen. Es muss in diesem Gebäude gewesen sein.«
    »Meinen Sie?«
    »Ich nehme es an.«
    »Können Sie sich erinnern, durch welchen Torbogen Sie gelaufen sind?«
    Ich wechselte auf die andere Straßenseite. Ich betrachtete das Gebäude so angestrengt, bis es weh tat.
    »Sie sehen alle ziemlich ähnlich aus. Es war dunkel, ich bin wie eine Wahnsinnige gerannt. Es tut mir so Leid. Ich habe tagelang eine Kapuze über dem Gesicht getragen und hatte fast schon Halluzinationen. Ich war in einem schrecklichen Zustand.«
    Cross holte tief Luft. Seine Enttäuschung war ihm anzusehen.
    »Vielleicht können wir die verschiedenen Möglichkeiten zumindest ein wenig einschränken.«

    Wir gingen die Straße auf und ab und traten durch die Torbogen in die verschiedenen Innenhöfe. Es war schrecklich. Ich konnte mir in etwa vorstellen, was der Architekt im Sinn gehabt hatte, als er den Gebäudekomplex plante. Es sollte wie ein italienisches Dorf mit Piazzen werden, offenen Plätzen, wo die Leute sitzen, spazierengehen und sich unterhalten können. Mit vielen kleinen Durchgängen und Querverbindungen. Aber es hatte nicht funktioniert. Cross zufolge hatten sich die Durchgänge als perfekte Verstecke und Fluchtwege entpuppt, als Hinterhalte für Schießereien und Überfälle.
    Er zeigte mir eine Stelle, an der in einem Müllcontainer eine Leiche gefunden worden war.
    Ich fühlte mich immer elender. All diese Plätze und Arkaden sahen gleich aus. Nichts davon kam mir bekannt vor. Cross hatte große Geduld mit mir. Eine Weile stand er einfach nur da und atmete weiße Wolken in die Luft, beide Hände in den Taschen. Dann begann er mich nach der Chronologie der Ereignisse zu fragen und nicht mehr nach der Richtung, aus der ich gekommen war. Ob ich mich erinnern könne, wie lange ich von dem Gebäude bis zu Tony Russells Haus gebraucht hatte? Ich versuchte, mir die Zeitspanne ins Gedächtnis zu rufen, kam aber zu keinem Ergebnis. Er ließ nicht locker. Fünf Minuten? Ich wusste es nicht. Länger? Kürzer? Ich wusste es nicht. War ich die ganze Strecke gerannt? Ja, natürlich. So

Weitere Kostenlose Bücher