In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber die Sonne hatte den Zenit schon lange überschritten. Sie mussten lange geschlafen haben. Sie zündete sich eine Zigarette an und holte ihr Handy hervor. Sie hatte es ausgeschaltet, als sie Theo nach seinem fruchtlosen Einsatz am Flughafen vom Polizeipräsidium abgeholt hatte, wo er noch eine erste Aussage hatte machen müssen. Die Mailbox zeigte zwölf Nachrichten an. Während sie sie abhörte, wurden ihre Augen immer größer.
»Ich muss sofort los!« Hanna hatte sich vor Theo aufgebaut und hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere. »Carlotta hat Nathalies ganze Geschichte ins Netz gestellt! Die Zeitungen drehen alle durch. Vielleicht gibt Hadice mir ein Exklusivinterview!«
Na das kann ja was werden, dachte Theo. Eine rasende Reporterin und ein Bestatter. Beide allzeit abrufbereit. Er verbarg seine Enttäuschung und reichte Hanna einen Kaffee. »Vielleicht solltest du dir vorher noch kurz etwas überziehen.«
Nathalie Stüven saß auf der Kante ihres Krankenhausbettes. Nachdem man festgestellt hatte, dass sie nicht an Tollwut litt, hatte man sie von der Isolierstation in ein normales Einzelzimmer verlegt. Die Antibiotika, die man ihr gegeben hatte, hatten bereits gut angeschlagen, sodass das Fieber schon deutlich gesunken war. Das schicke marineblaue Kostüm, das ihr Vater ihr mitgebracht hatte, bildete einen seltsamen Kontrast zu ihrem blassen, ungeschminkten Gesicht und den Haaren, die sie zwar gewaschen, aber nicht geföhnt hatte.
Ihr Vater durchmaß das Krankenzimmer mit großen Schritten. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«
Seit dem Morgen hatte das Telefon nicht mehr stillgestanden. Vor dem Krankenhaus lauerte ein Rudel Reporter. Ihm war sehr schnell klar geworden, dass sie nicht da waren, um eine Heldin zu feiern. Die Meute wollte Blut. Um Punkt 02.19 Uhr war bei allen bundesweiten Nachrichtenredaktionen eine sensationelle E-Mail eingegangen. Sie enthielt einen Link auf Nathalies Beichte, die Carlotta mitgeschnitten hatte. All ihre Grausamkeiten waren der breiten Öffentlichkeit nun preisgegeben. Und es waren keineswegs nur ihre Jugendsünden, über die sie gesprochen hatte. Einmal in Fluss gekommen, hatte sie auch über Intrigen und unsaubere Deals geredet, die sie so schnell in eine Spitzenposition der Hamburger Politik gebracht hatten.
»Du bist am Ende«, zischte ihr Vater in mühsam unterdrückter Wut. »Vollkommen ruiniert!«
Nathalie sah gleichmütig aus dem Fenster, aus dem sie einen Blick auf eine prächtige alte Rotbuche hatte. Die Blätter bewegten sich im Frühsommerwind. Sie ließ die Tiraden ihres Vaters an sich vorbeirauschen. Er hatte kein Wort darüber verloren, dass er froh war, dass sie noch lebte, dass sie nicht elendig an Tollwut zugrunde gehen würde. Noch während er sprach, stand sie auf, nahm ihre Handtasche und ging hinaus. Er merkte es nicht einmal, als sie die Tür leise hinter sich schloss. Ihre Karriere war zu Ende, wusste Nathalie. Vielleicht fing ja stattdessen jetzt ihr Leben an.
DICHTUNG UND WAHRHEIT
Sämtliche in diesem Buch beschriebenen Personen und Vorgänge sind allein meiner Phantasie entsprungen. Allerdings basieren sie auf Erlebnissen und Beobachtungen aus meiner eigenen Schulzeit – und auf Wissen, das meiner medizinjournalistischen Tätigkeit entspringt. Mobbing ist eine unverzeihliche seelische Grausamkeit. Und junge Menschen, die in sich noch nicht gefestigt sind, trifft diese umso tiefer und zerstörerischer.
Meine Recherchen zu der Art und Weise, in der die Polizei ermittelt, haben mich diesmal vor ein moralisches Dilemma gestellt. Als Journalistin fühle ich mich als zur Wahrheit verpflichtete Geschichtenerzählerin. Doch angesichts der gesetzlichen und bürokratischen Zwänge, der die Ermittler im wahren Leben unterworfen sind, ist es im Rahmen eines Romans tatsächlich schwierig, diese in allen Punkten zu berücksichtigen – der Handlungsverlauf wäre einfach zu zäh. Meine aufrichtige Bewunderung gilt daher den Beamten, die diesen anspruchsvollen und schwierigen Job ausüben und dies trotz der sicher mitunter frustrierenden Arbeitsumstände mit Engagement und Leidenschaft tun.
Insbesondere zwei inhaltliche Unsauberkeiten muss ich richtigstellen:
1.Eine Kommissarin mit gebrochenem Knöchel dürfte niemals aktiver Teil einer Mordermittlung sein – um weder sich noch die Kollegen zu gefährden.
2.Bei der Entführung einer Hamburger Senatorin wäre automatisch der Staatsschutz im Einsatz.
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