In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
sozusagen. Theo selbst hatte seit dem Abitur keinen Gedanken mehr an Lehmann verschwendet. Wobei – vielleicht noch im Grundkurs Psychiatrie, den er während seines Studiums absolviert hatte. Hier hätte man Lehmann glatt als Paradebeispiel des sadistischen Narzissten einordnen können. Lehmann war einfach ein fieser Mistkerl gewesen. »Wer weiß, Menschen ändern sich«, hörte er Nadeshda sagen. Theo blickte hinüber zur Fensterbank vor der Milchglasscheibe, auf der Nadeshda so oft gesessen und mit den Beinen gebaumelt hatte. Doch diese war leer. Er lächelte. Nadeshda hatte, im Gegensatz zu ihm, immer an das Gute im Menschen geglaubt.
Inzwischen hatte er sich an ihre sporadische Gegenwart gewöhnt – bis vor Kurzem hatte er sie nicht nur gehört, sondern auch gesehen. Er akzeptierte die neurologische Erklärung, dass es sich um eine bizarre Ausgeburt seines Hippocampus handelte, jener Hirnregion, die für das Speichern und Wiederabrufen von Gedächtnisinhalten zuständig ist. »Viele Menschen sehen Menschen, die ihnen sehr nahestanden, nach dem Tod«, hatte ihm ein spezialisierter Psychiater erklärt, den er nach langem Ringen doch noch aufgesucht hatte. Ein ganz normaler Prozess in der Trauerverarbeitung also.
Theo warf einen letzten Blick auf den Toten, bevor er das Laken über ihn ausbreitete. Von der Agonie, die Lehmanns letzte Stunden geprägt haben dürfte, war nichts zu sehen. Im Augenblick des Todes entspannten sich die Muskeln und gaben von den vorangegangenen Kämpfen nichts preis. »Armer Teufel«, sagte Theo. Nicht einmal ein Dreckskerl wie Lehmann hatte einen solchen Tod verdient.
»Tollwut«, hatte Rechtsmediziner Leo Jürgens triumphiert.
»Du machst Witze.«
»Keineswegs, der Typ hier ist eindeutig an Tollwut zugrunde gegangen.«
»Hat er sich im Ausland infiziert?« Davon ging Theo aus. Die Tollwut war in Deutschland weitgehend ausgerottet.
»Eigentlich sieht der Kamerad hier nicht so aus, als ob er sich eine Auslandsreise leisten konnte.«
Als Theo den Toten betrachtet hatte, verstand er, warum. Reinhold sah aus wie ein Penner.
»Hier haben wir offenbar die Infektionswunde.« Leo hatte auf zwei punktförmige nebeneinanderliegende Wunden am Hals des Toten gedeutet. Sie sahen rot und entzündet aus.
»Ein Biss?«
Leo nickte.
»Verdammt, was für ein Vieh erwischt einen denn an der Stelle?«
»Fledermaus.«
»Eine Fledermaus? Bist du sicher?«
Der Gerichtsmediziner hatte erneut genickt. »Hat bereits ein Experte bestätigt. Das passt auch – Fledermäuse sind in Deutschland das letzte Reservoir für Tollwuterreger.«
»Aber Fledermäuse gehen doch nicht auf Menschen los!«
»Diese hier offenbar schon.«
Theo schob den Toten auf der Bahre in den Kühlraum. Übermorgen würde die Kremierung stattfinden. Die Beisetzung schon am Tag darauf. So, wie Lehmann ausgesehen hatte, würde es ihn sehr wundern, wenn außer ihm noch jemand dabei sein sollte.
Die Gummihandschuhe lösten sich mit leichtem Schnalzen von seinen Händen. Theo streifte den grünen OP-Kittel ab und ließ ihn in einen Wäschekorb neben dem Waschbecken fallen. Dann wusch er sich gründlich die Hände inklusive der Fingerzwischenräume, wie er es sich während des Medizinstudiums angewöhnt hatte.
Als er in die Diele des Bestattungsinstituts trat, öffnete sich die Haustür und May kam herein, triefend vor Nässe. Sie zog eine Tüte mit Gebäck unter ihrem Anorak hervor. Glücklicherweise legte sie beim Backwerk weniger Gleichgültigkeit gegenüber den Witterungseinflüssen an den Tag, als es bei ihrer Frisur der Fall war. Unter den linken Arm geklemmt trug sie die Post.
Sie war gekommen, um sich mit Theo die anstehenden Arbeiten aufzuteilen. Neben organisatorischen Dingen, wie die Belegung der Gräber, das Ordern der Särge und Urnen, die Buchung von Todesanzeigen und Blumenschmuck, die sie in Absprache mit den Hinterbliebenen auswählten, ging es dabei vor allem um das Herrichten der Toten für die Abschiednahmen. Letztere gehörten nicht zum Standardprogramm hanseatischer Bestatter, wurden aber seit jeher beim Beerdigungsinstitut Matthies großgeschrieben. Es half den Hinterbliebenen, die Realität des Todes anzuerkennen und vielleicht letzte Worte im stummen Zwiegespräch mit den Toten zu wechseln. Das waren wichtige Schritte im Trauerprozess und erleichterten es, den Verstorbenen tatsächlich loslassen zu können.
May drückte Theo die Post in die Hand. »Ich mach mal Kaffee«, sagte sie und verschwand in
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