In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Sturmmannschaft leise Anweisungen. In ihren schwarzen Ausrüstungen mit den dunklen Helmen sahen sie aus wie Klone von Darth Vader aus Star Wars. Hadice und Henry sollten warten, bis die Mannschaft die Lage gesichert hatte.
Der Mond kam hinter einer Wolke hervor und tauchte die Szene in ein unwirkliches Licht. Der Schlafmangel und der erneute Adrenalinstoß bewirkten, dass Hadice meinte, neben sich zu stehen. Sie beobachtete, wie die dunklen Gestalten lautlos durch den blühenden Garten huschten und sich um das Haus herum verteilten. Der Großeinsatz schien angesichts des friedlich dastehenden Häuschens grotesk. Doch erst beim letzten Mal hatten sie schmerzlich feststellen müssen, wie schnell man sich täuschen konnte. Zwei der Männer positionierten sich links und rechts vom Eingang. Auf einen Funkbefehl hin, den Hadice und Henry nicht hören konnten, drang die Einsatztruppe zeitgleich in das Gebäude ein.
Es dauerte vielleicht drei Minuten, bis einer von ihnen wieder in der offen stehenden Haustür auftauchte. Er hob einen Arm und bedeutete ihnen herbeizukommen.
»Mist«, sagte Henry.
Hadice wusste, warum er fluchte. Dass es so schnell gegangen war, verhieß nichts Gutes.
Der Einsatzleiter zog sich den Helm vom Kopf und klemmte ihn unter den Arm. »Keiner da«, informierte er sie knapp. »Aber der Vogel ist vor nicht allzu langer Zeit ausgeflogen, scheint mir.«
Er ließ sie eintreten, blieb aber selbst vor der Tür stehen. »In der Küche steht übrigens ein Laptop«, rief er ihnen hinterher.
Im engen Flur kamen ihnen einige weitere Männer entgegen. Ohne die Helme hatten sie sich in menschliche Wesen zurückverwandelt. Sie waren noch sehr jung und witzelten ein bisschen herum, um die angestaute Spannung abzubauen.
Die Küche nahm den größten Teil des Untergeschosses ein. Anders als das letzte Haus, das sie durchsucht hatten, wirkte es bewohnt. Auf der Anrichte stand ein Korb mit frischem Obst, ein kleiner Strauß aus Wiesenblumen schmückte den Küchentisch. Auf einem Stuhl lagen ein paar Zeitungen herum. Auf allen Titelblättern sorgte der Fall der verschwundenen Senatorin für Schlagzeilen.
Alles in dem gemütlichen Raum schien so geblieben zu sein, wie Babette Sörgel und ihr Mann es sich vor fünfzig Jahren eingerichtet hatten. Die Einbauküche war abgenutzt, aber von guter Qualität und augenscheinlich sorgfältig gepflegt worden. An der Tür des Kühlschranks klebte noch ein Übersichtskalender, den das »Hamburger Abendblatt« jährlich an seine Abonnenten verteilte. Darin hatte Babette Sörgel mit fast kindlich wirkenden Buchstaben Geburtstage eingetragen, aber auch Aktivitäten wie die Jahresversammlung des Kaninchenzüchtervereins. Offenbar hatte die alte Frau ein reges Sozialleben gehabt, bevor sie ins Pflegeheim gemusst hatte.
Hadice wunderte sich, dass sie überhaupt noch lebte. Die meisten alten Menschen starben schnell, wenn sie ihrer alltäglichen Routine abrupt entrissen wurden und plötzlich keine Aufgaben mehr hatten. Sie zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und ließ sich darauf sinken. Sie fühlte sich mutlos. »Was machen wir jetzt bloß, Henry?«
»Erst mal schauen wir uns das da an.«
Mit behandschuhten Händen hatte er den Laptop aufgeklappt, der nur auf Standby geschaltet gewesen war. Der Monitor zeigte das Gesicht einer jungen Frau mit kurzen schwarzen Locken.
»Eine Videobotschaft.« Hadice beugte sich vor und drehte den Bildschirm so, dass sie besser sehen konnte. Sie betrachtete die Frau ausgiebig. Dann sah sie Henry an. »Wer immer das hier ist, es ist jedenfalls nicht Sanna Sörgel.«
Hanna stand am Fenster und sah hinaus in Theos nächtlichen Garten. Eine Katze schlich über den Rasen und starrte der Frau am Fenster kurz in die Augen. Dann zog sie weiter. Sie blickte auf das Telefon in ihrer Hand. Warum nur hatte Sannas Mutter einfach aufgelegt? Sie hatte es bereits mehrfach versucht. Beim ersten Mal war der Anrufbeantworter angesprungen. Danach hatte es nur noch ins Leere geklingelt. Offenbar hatte die Frau den Anrufbeantworter ausgeschaltet. Sie versuchte es erneut. So einfach konnte sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Entschlossen drückte sie die Wahlwiederholung.
Gerhard Sörgel und seine Frau Melanie saßen beim Abendessen. Der Coq au Vin war wie immer ausgezeichnet, doch der Arzt bemerkte, dass seine Frau noch lustloser als sonst darin herumstocherte. Von der lebhaften Frau, die er einst geheiratet hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben.
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