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In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)

Titel: In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Fux
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Henry: »Sie hat Sannas Eltern erreicht. Sie sagen, dass Sanna gestorben ist.« Dann wandte sie sich wieder dem Telefon zu. »Tut mir leid, wir haben ihn noch immer nicht gefunden. Aber wir haben eine Spur. Ich melde mich bei dir.« Sie steckte das Gerät weg. »Arme Hanna.«
    Hinter Henrys Stirn arbeitete es. »Sanna ist also tot. Aber wenn das nicht Sanna ist, wer zum Henker ist es dann?«
    »Jemand, der sie rächen will. Nur dass es diesmal nicht allein um ihr verpfuschtes Leben geht, sondern darum, dass sie überhaupt nicht mehr lebt.«
    »Und dieser jemand hat das sogar nicht nur in, sondern auch unter ihrem Namen getan – und sich als Putzfrau ins Bernhard-Nocht-Institut eingeschmuggelt.«
    »Hören wir sie uns doch ganz einfach selbst an«, sagte Hadice.
    Henry drückte die Playtaste und die Mörderin begann zu sprechen.
    »Mein Name ist Carlotta.«
    Damals
    Die weißen Lilien des Blumengebindes zitterten leicht, als der Sarg am Boden des Grabes aufsetzte. Lilien, dachte Carlotta verächtlich. Sanna hatte Lilien nicht ausstehen können – wegen ihres intensiven Geruches und der Penetranz, mit der ihr Blütenstaub gelborange Flecken auf Möbeln und Kleidung hinterließ. Hätte sie dieses Begräbnis organisiert, hätte sie blaue Blumen gewählt. Blau war schon immer die Lieblingsfarbe ihrer Schwester gewesen. Wie der Blumenschmuck, so war die gesamte Trauerfeier vermurkst gewesen. Sie hatte nicht das Geringste mit der Sanna zu tun gehabt, die Carlotta kannte – weder die getragene Musik von Brahms, die statt der Ballettmusik von Tschaikowsky die Kirche erfüllt hatte, noch die verlogene, salbungsvolle Rede des Pfarrers, der nur davon gesprochen hatte, dass Sanna endlich heimgegangen war. Ihr irdisches Leiden hatte er taktvoll nicht beim Namen genannt.
    »Sie ist nicht heimgegangen, sie ist verhungert!«, hatte Carlotta laut gesagt und dabei herausfordernd ihre Eltern angestarrt, die weit weg von ihr in der ersten Reihe der Kirchenbänke Platz genommen hatten. Die Mutter, wie immer tadellos gekleidet und frisiert, hatte teilnahmslos gewirkt, fast als ob sie unter Drogen stünde, der Vater sehr aufrecht und distinguiert. Wahrscheinlich sind alle seine weiblichen Angestellten heimlich in ihn verliebt, dachte Carlotta und spürte eine giftige Wolke in sich aufsteigen, die ihr fast den Atem nahm. Sie war mitten im Gottesdienst aufgestanden und hinausgegangen. Dabei hatte sie die Blicke der Anwesenden im Nacken gespürt, von denen sich einige sicher fragten, wer die junge Frau im feuerroten Mantel war, die diesen Eklat provozierte.
    Carlotta hatte den Kontakt zu ihren Eltern schon vor Jahren abgebrochen. Kaum einer hier kannte sie, und kaum einer von ihnen hatte Sanna gekannt. Ihre Schwester war schon bei ihrer Ankunft in Kanada schwer krank gewesen und seitdem zwischen Klinikaufenthalten und dem Haus ihrer Eltern hin- und hergependelt. Bis auf einige Menschen vom Klinikpersonal und ein paar Mitpatienten hatte sie in all den Jahren keinerlei Kontakte geknüpft. Dass die Trauerfeier trotzdem so gut besucht war, fand Carlotta unerträglich. Diese Leute waren wegen ihrer Eltern hier, genauer gesagt, wegen ihres Vaters, und ganz sicher nicht wegen Sanna. Sie hatten hier alle nichts verloren.
    Immerhin hatte sie unter den Trauergästen Fleur entdeckt, mit der ihre Schwester sich in der Klinik angefreundet hatte. Sie sah immer noch sehr zart aus, aber selbst durch den dicken Wintermantel konnte Carlotta erkennen, dass die junge Frau deutlich an Gewicht zugelegt hatte. Anders als ihre Schwester schien sie die zerstörerische Krankheit in den Griff bekommen zu haben. »Entscheidend ist, ob die Patienten leben wollen«, hatte ihr Dr. Lépine, der Psychiater ihrer Schwester erklärt. Carlotta hatte genickt. Genau darin liegt das Problem, hatte sie verzweifelt gedacht. Sie entdeckte seine rundliche Gestalt neben Fleur in der Bank. Carlotta hatte den freundlichen Psychiater zu schätzen gelernt. Sein offensichtliches Vergnügen an gutem Essen und gutem Wein schien ihr die beste Reklame zu sein, sich wieder den Freuden hinzugeben, die das Leben zu bieten hatte.
    Er war hochkompetent und absolut aufrichtig. Und so war er der Erste gewesen, der ihr von Anfang an in aller Klarheit gesagt hatte, dass Magersucht eine lebensbedrohliche psychische Erkrankung sei. »Fünfzehn Prozent der Patienten sterben«, hatte er ernst gesagt. Damit war Anorexie, der medizinische Fachbegriff für die Störung, weit tödlicher als Depressionen.

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