In sueßer Ruh
age
Had dimm’d mine eyes to blindness!
Das Gedicht geht damit weiter, dass der zwangsweise zurückgebliebene Dichter den Ausflug seiner Freunde nachempfindet, indem er sich ausmalt, was ihnen unterwegs begegnet. Auf diese Weise nimmt er quasi ebenfalls daran teil. Das Gedicht endet mit dem Flug einer einzelnen Krähe, die er von seinem Haus aus sieht. Er stellt sich vor, dass sein Freund Charles Lamb denselben Vogel gesehen hat:
While thou stood’st gazing; or, when all was still,
Flew creeking o’er thy head, and had a charm
For thee, my gentle-hearted Charles, to whom
No sound is dissonant which tells of Life.
Besonders die letzte Zeile des Gedichts fand Lee anrührend, weil sie den Schmerz des Lebens ebenso erfasste wie seine Freuden. Er beobachtete, wie die Krähe über das East Village flog, und fragte sich, was Detective Butts auf seiner Exkursion begegnete. Er dachte an Melville und Hawthorne und ihre berühmte gemeinsame Wanderung durch die Berkshires in Massachusetts, bevor ihre Freundschaft aus rätselhaften Gründen in die Brüche ging. Aber es gab eine Verbindung zwischen ihnen und dem Mörder – nur würde ihnen das helfen, ihn zu schnappen?
Sein Handy klingelte. Es war Butts.
»Volltreffer, Doc – Sie hatten recht.«
»Sie war also dort?«
»Allerdings. Toby – das ist dieser, äh, Spürhund – hat ihre Fährte aufgenommen. Und sie bis zu der Stelle verfolgt, wo wir sie gefunden haben.«
»Melvilles Grab?«
»Ja. Dort endete sie. Scheint mir ziemlich überzeugend. Wir schicken jetzt ein Team hin, um Spurenmaterial zu sichern.«
»Wenn ihr Geruch so deutlich war, hat er sie dann hinter sich hergezogen, was meinen Sie?«
»Kalamaka – dieser Typ von der K -9 – hält’s für möglich. Vielleicht hat er sie auch getragen, musste sie aber hin und wieder absetzen. Der Hund hat ihre Witterung erst am nördlichen Rand des Botanischen Gartens aufgenommen, wir wissen also nicht genau, wie er sie dorthin gebracht hat.«
»Vielleicht mit einer Schubkarre? Davon muss es dort doch viele geben.«
»Könnte sein. Jedenfalls ist das Areal groß genug, um nach dem Ende der Öffnungszeit leicht ein Versteck zu finden. So viel steht fest.«
»Überprüft das Personal das nicht?«
»Schon, aber es gibt reichlich Plätze, wo man sich verstecken kann, wenn man weiß, was man tut.«
»Nur, wie hat er sie unbemerkt in den Garten hineinbekommen?«
»Vielleicht hat er sie ja dort umgebracht.«
»Und ihr das Blut abgelassen? Wie hätte er das anstellen sollen?«
»In diesem Fall gibt’s ’ne Menge schrägen Scheiß, Doc. Ich hab jedenfalls mehr Fragen als Antworten, das kann ich Ihnen sagen.«
»Danke, dass Sie mich auf dem Laufenden halten.«
»Klar doch.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Und wie geht’s Ihnen? Bisschen besser?«
»Ja, danke. Und danke für Ihr Verständnis.«
»Klar. Wir haben doch alle mal was, richtig, Doc?«
»Ja, ich denke schon.«
»Machen Sie’s gut, bis morgen dann.«
»Ich komme.«
Lee legte auf, verließ das Dach und stieg die Feuerleiter hinunter. Er hörte die Tauben, die gurrend darauf saßen. No sound is dissonant which tells of Life – Kein Laut ist Missklang, der vom Leben erzählt . Weise Worte vielleicht, aber stimmten sie auch?
Zurück in seiner Wohnung, lockte ihn das Klavier aus der Zimmerecke zu sich. Er sehnte sich danach, seine Finger auf den Tasten zu spüren, deren glattes weißes Elfenbein sich so kühl anfühlte. Er zog den ersten Band des Wohltemperierten Klaviers von der Klavierbank und wärmte sich mit dem Präludium in d-Moll auf, gefolgt von seinem derzeitigen Favoriten, dem Präludium in f-Moll. Der Klang hüllte ihn ein und löste dieses vertraute Prickeln sinnlicher Freude in ihm aus, vermischt mit dem unbeschreiblichen, rätselhaften Etwas, das nur Musik ihm geben konnte. Wichtiger war jedoch, dass das Klavier ihm beim Denken half, wenn er an einem Fall war.
Kein Laut ist Missklang … aber natürlich, das Leben war voller misstönender Geräusche – und Anblicke. Die wimmernden Schreie der Opfer, die Panik in ihren Augen … Coleridge schwelgte in einem Wunschdenken, das er auf seinen Freund Charles Lamb projizierte. Süß, aber naiv, dachte Lee, als er sich in das extrem anspruchsvolle Präludium in c-Moll vertiefte. Die Noten auf der Seite tanzten umeinander, schwollen an und verklangen wieder, als er sie von der Seite in die Melodie entließ. Bachs Partituren wirkten gelegentlich so geometrisch, so ebenmäßig
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