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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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aufzuwecken, die Kleine rührte sich jedoch nicht. Ziemlich sicher war sie tot. Schon mehrere Minuten lang lag sie jetzt so blass und reglos da. Anthony wusste, dass Dinge, die er sah oder hörte, manchmal nicht real waren. Trotzdem war er nicht blöd, wie er gern sagte – nur verrückt. Aber heute hatte er daran gedacht, seine Medikamente zu nehmen, und fühlte sich klar genug, um die Lage zu beurteilen.
    Er schaute über den Hudson nach New Jersey hinüber, alles war noch ruhig und entspannt in der frühmorgendlichen Stille. Es war kurz vor Sonnenaufgang, und ein schwaches rosa Licht war auf die Gebäude jenseits des Flusses gefallen und hatte die Fenster der Bürohochhäuser in rosafarbene Spiegel verwandelt, genauso undurchsichtig und rätselhaft wie die Dämmerung. Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, was er als Nächstes tun musste. Wenn er es der Polizei meldete, verdächtigten sie ihn vielleicht, sie umgebracht zu haben. Immerhin war er psychisch krank, und obwohl er noch nie gewalttätig geworden war, litt er an Paranoia. Solange er seine Medikamente nahm, begriff er, dass die Stimmen in seinem Kopf ein Resultat seines kranken Gehirns waren. Nahm er seine Pillen jedoch nicht, konnte er sich an diese lichten Momente überhaupt nicht erinnern.
    Er zwang sich dazu, sich auf das vorliegende Problem zu konzentrieren. Was, wenn das Mädchen gar nicht tot war – wenn es noch lebte und seine Hilfe brauchte? Es konnte Stunden dauern, bis jemand anderer die Kleine entdeckte. Nicht dass viele Leute auf diesen Felsbuckel hochstiegen, und vom Fußweg unten war sie nicht zu sehen, nicht so, wie sie dalag. Jetzt bereute er, dass er raufgekommen war, um den Sonnenaufgang zu betrachten wie schon so viele Male zuvor. Er hatte Angst, sie anzufassen, erinnerte sich aber an etwas, das er einmal in einem Film gesehen hatte.
    Er wühlte in dem Einkaufswagen mit seinen Habseligkeiten herum und zog einen Rucksack heraus, seine »Reisetasche«, wie er ihn nannte. In der vorderen Außentasche fand er, was er suchte: die Scherbe eines zerbrochenen Taschenspiegels. Vorsichtig nahm er sie aus dem Rucksack, kniete sich neben das Mädchen, hielt sie ihm vor den Mund und wartete. Als sich nichts tat – der Spiegel nicht beschlug und nicht der leiseste Atemhauch aus seinem leicht geöffneten Mund drang –, steckte er die Scherbe wieder in den Rucksack zurück.
    Es bestand kein Zweifel: Das Mädchen war tot. Er seufzte und machte sich auf den Weg zum Riverside Drive, den Wagen zog er hinter sich her. Oben auf dem Poe Rock hüpfte ein Eichhörnchen auf die reglose Gestalt zu, die ausgestreckt auf der kalten Steinplatte lag. Mit einer schnellen Bewegung seines dichten Schwanzes hockte es sich auf die Hinterbeine und rückte, in der Hoffnung auf ein Almosen, ein Stück näher. Es schnüffelte kurz in die Luft, wandte sich schlagartig ab und flitzte davon. Was das Eichhörnchen in der milden Sommerbrise gewittert hatte, war der Geruch des Todes.

KAPITEL 62
    Wie Lee vorausgesagt hatte, ließ die dritte Hiobsbotschaft nicht lange auf sich warten.
    Am Sonntagmorgen erwachte er und fand sowohl auf dem Anrufbeantworter als auch auf seiner Mailbox Nachrichten vor. Er ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen, und drückte die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters. Die Nachricht ließ ihn beim Abhören zusammenzucken. Sie kam von Chuck, dessen knapper Ton Zorn und Enttäuschung verrieten.
    »Wir brauchen dich hier so schnell wie möglich. Es gibt ein weiteres Opfer. Wenn du das hörst, ruf im Büro an, mein Sergeant erklärt es dir.«
    Er fragte sich, wie wohl die Einzelheiten bei dem neuen Opfer aussahen. Es war mehr an diesem Täter, als er Dr. Williams erzählt hatte. Es gab unleugbar eine sexuelle Komponente bei seinen Taten – bei Serientätern nahezu selbstverständlich. Aber bei diesem hier ging es um mehr, davon war er überzeugt. Das Problem war nur, dass er nicht wusste, wie es dazu beitragen konnte, diesen Kerl ausfindig zu machen. Sie hatten bislang keine Übereinstimmung von Fingerabdrücken, keine Spur, kein Gesicht.
    Er stopfte sich einen Energieriegel in die Jackentasche und ging zur Tür. Sein Telefon klingelte erneut, und er wartete ab, bis der Anrufbeantworter ansprang. Als er Kathy eine Nachricht hinterlassen hörte, machte er kehrt und ging ans Telefon.
    »Ich bin da.«
    »Lee?«, sagte sie.
    »Ja.«
    »Ich – ich weiß nicht genau, warum ich anrufe. Ich glaube, ich musste deine Stimme hören. Ich dachte, du

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