In sueßer Ruh
passiert?«
»Ich … war wie von der Rolle.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich bin ausgeflippt. Habe angefangen, zu schreien und mit Sachen um mich zu werfen. Und geheult. Einfach nur geheult wie ein verwundetes Tier.« Sogar jetzt konnte er sich noch an die rasende Wut erinnern, die in seinem Inneren tobte. Sie hatte etwas Lebendiges, wie ein Dämon, der aus ihm herausfahren wollte. Gegen diese Urkraft war er machtlos. »Ich bin komplett durchgedreht.«
»Wie hat sich das angefühlt, so viel Wut zum Ausdruck zu bringen?«
Er überlegte. Als ihm die Antwort kam, überraschte sie ihn.
»Gut. Sehr gut sogar. Als würde ich in dieses Gefühl eintauchen und mich irgendwie darin suhlen.«
»Es fühlte sich also sehr gut an?«
»Ja.«
»Und wie wurde das aufgenommen?«
Er lächelte ironisch. »Nicht besonders gut.«
»Was haben Ihre Eltern gemacht?«
»Ich weiß nicht mehr.«
Sie wirkte verblüfft. »Sie erinnern sich an Ihren Wutausbruch wegen des Feuerwerks, aber nicht daran, wie Ihre Eltern darauf reagiert haben?«
»Nicht so richtig. Ich entsinne mich, dass ich dachte, sie zutiefst enttäuscht zu haben, und dann an nichts mehr.«
»Haben Sie das Weggehen Ihres Vaters mit Ihrem Wutausbruch in Verbindung gebracht – dass er ihn dazu veranlasst haben könnte fortzugehen?«
»Damals nicht, jedenfalls nicht bewusst.«
»Glauben Sie, Sie hätten gerne noch so einen Wutanfall wie diesen?«
O ja, allerdings, sogar sehr gerne.
»Ich schätze schon.«
Er sah aus dem Fenster, wo ein Spatzenpärchen auf der Feuertreppe um Krümel wetteiferte. Die Vögel hüpften herum und pickten Brotkrumen auf, ihre schlauen kleinen Augen blitzten vor Überlebenswillen. Aber es gab immer nur so viel, dass es nicht für alle reichte – Essen, Zuneigung, Geborgenheit, was auch immer. Alles gab es nur in begrenzter Menge, sogar Liebe. Oder vielleicht gerade Liebe.
»Er braucht ihr Blut, um sich sicher zu fühlen«, sagte er. »Es geht weniger um Sex als um Sicherheit.«
Dr. Williams runzelte die Stirn. »Er braucht also ihr Blut, um –«
»Weil er das Gefühl hat, ohne es zu sterben. Er braucht es zum Überleben.«
Und Menschen, wusste er, würden viele schreckliche Dinge tun, um zu überleben.
KAPITEL 59
Lee schaute aus dem Fenster seiner Wohnung. Die Sonne stand tief, und mit dem schwindenden Tageslicht ließ auch seine Depression nach – zumindest vorläufig. Ein angenehmes Gefühl süßer Erleichterung durchflutete ihn. Das gleichzeitig aber auch von Schuld und Gewissensbissen begleitet wurde – Schuld, seine Kollegen im Stich gelassen zu haben, und Gewissensbisse, weil er die Tour in den Botanischen Garten verpasst hatte. Nicht dass er dort etwas Besonderes hätte tun können. Doch aus Butts Anruf hatte er dessen Enttäuschung und Besorgnis herausgehört.
Es war ein schlimmer Anfall – der schlimmste, seit vor einem Jahr die Türme eingestürzt waren. Er verfluchte sich, dass er ihn nicht vorausgesehen hatte. Andererseits: wie auch? Es war ihm zunehmend besser gegangen, jedenfalls hatte er es angenommen. Seit er Kathy begegnet war, war es bergauf gegangen, und er war dumm genug gewesen zu glauben, die lange Talfahrt wäre vorüber. Dr. Williams hatte ihn gewarnt, dass es Stolpersteine auf seinem Genesungsweg geben könnte, aber konnte es nicht ertragen, ihr zu glauben. Es verstandesmäßig zu wissen war eine Sache, dem erdrückenden Schmerz tatsächlich ausgesetzt zu sein jedoch etwas anderes. Er hatte vergessen, wie absolut unerträglich es war – die lähmende Angst, das Schwitzen, das Feuer in seinem Inneren, aus dem es kein Entrinnen gab.
Er musste nach draußen. Spontan kletterte er durchs Fenster und über die Feuerleiter aufs Dach, um sich den Sonnenuntergang anzusehen. Das weiche Licht der letzten Strahlen fiel auf sein Gesicht, bevor die Sonne hinter die Häuser des East Village glitt. Er dachte an Butts und Quinlan oben in der Bronx und fragte sich, was sie wohl fänden. Eine Krähe, die auf dem Balkon des Hauses gegenüber hockte, breitete die Flügel aus und flog in Richtung der untergehenden Sonne. Ihm kam eines seiner Lieblingsgedichte von Coleridge in den Sinn, This Lime-Tree Bower My Prison . Coleridge hatte es geschrieben, als eine Fußverletzung ihn daran hinderte, mit seinen Freunden auf eine Wanderung zu gehen.
Well, they are gone, and here must I remain,
This lime-tree bower my prison! I have lost
Beauties and feelings, such as would have been
Most sweet to my remembrance even when
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