In sueßer Ruh
hatte sie ihren eigenen Musikklub ausgerechnet in New York. Sie fragte sich, wie ihre Großmutter heute über sie denken würde, als sie durch den Vorraum an der Popcornmaschine vorbeiging, in deren Ecken noch ein paar ölige Maiskörner lagen. Die Bühne wirkte immer ein wenig unheimlich, so still und leer, nur ein paar Mikrofonständer und leere Stühle standen darauf herum. Ohne Musik hatte ein solcher Ort etwas Trostloses. Es herrschte eine Atmosphäre gedämpfter Erwartung, als ob selbst die Luft darauf wartete, die Horde von Feiernden wieder willkommen zu heißen. Der Ort wirkte einsam.
Lillian selber war nicht musikalisch, sie bot aber gerne denen ein Fleckchen, die es waren. Sie hielt sich nicht groß damit auf, andere um Talente zu beneiden, die sie nicht hatte. Sie war von jeher ein praktisch veranlagtes Mädchen gewesen, das sich mehr darauf konzentrierte, Dinge gebacken zu kriegen, statt darauf, was es bei jeder verdammten Kleinigkeit empfand. Und heute war eben ein bisschen Buchhaltung an der Reihe, dachte sie, als sie die Tür zu ihrem winzigen Büro aufschließen wollte.
Zu ihrer Überraschung war sie unverschlossen. Sie fluchte unterdrückt. Dafür würde jemand was auf den Deckel kriegen – wahrscheinlich Jorge Ortíz, ihr Koch an Samstagabenden. Er machte irre Tamales, und sein Geheimrezept für Pozole war außergewöhnlich. Aber er schlich sich gern ins Büro und benutzte das Telefon, um seine Freundin in San Miguel anzurufen. Gegen die Anrufe hatte Lillian eigentlich nichts, sie hatte allerdings strikte Anweisung gegeben, das Büro nach jeder Schicht unbedingt abzuschließen. Bei einem Einbruch verständigte das Sicherheitssystem automatisch die Polizei, und bis jemand die Bürotür aufgebrochen hätte, wären die Beamten schon da. War das Büro hingegen nicht abgeschlossen, bestanden gute Chancen, dass sich jemand mit den Einkünften des letzten Abends davonmachte. Früher hatte Lillian ihr Bargeld nachts noch immer zum Einzahlautomaten der Bank um die Ecke gebracht. Seit dieser arme Kerl – der, dem das Second Avenue Deli gehörte, Abe Sowieso – auf dem Weg dorthin erschossen worden war, tat sie es nicht mehr. Seine Mörder waren nie gefasst worden.
Sie schob die Tür auf und betrat ihr Büro. Die Spitze ihres Turnschuhs stieß gegen den Absatz eines anderen Schuhs – eines Cowboystiefels. Sie sah hinunter. Jetzt verstand sie, weshalb die Tür nicht abgeschlossen war. Und ihr war klar, dass dies ihr geringstes Problem war.
KAPITEL 64
Anthony Palatine war die Sorte Mensch, die Lee schon Dutzende Male in Fernsehshows gesehen hatte: geradezu das Klischeebild eines psychisch kranken Obdachlosen, von der leeren, ängstlichen Miene bis hin zu den schmuddeligen Klamotten. Nur dass Palatine ganz real war und in einem Verhörraum des Morddezernats auf der anderen Seite eines Einwegspiegels saß. Sein breites Gesicht war wettergegerbt, er war mager und hatte eingesunkene Augen. Er zappelte in einem fort unruhig herum und trommelte mit den dreckigen Fingernägeln auf seine fleckige Jeans ein. Er war ziemlich dick angezogen für diese Jahreszeit, trug eine olivgrüne Splitterschutzweste und eine Bommelmütze, die er sich über die Ohren gezogen hatte. Er hatte die ungesund gräuliche Blässe eines Medikamentenabhängigen, und seine Haut war mit kleinen Schnitten und Abschürfungen übersät.
Nervös sah er sich in dem leeren Raum um und murmelte vor sich hin. Lee konnte nicht verstehen, was er sagte, obwohl ihm hin und wieder einige Wörter entfuhren – »Schweinehunde«, »Gott« und »Muffins«. Muffins? Er war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte, aber dann wiederholte Paladine es noch einmal, diesmal deutlicher. Lee war sich unschlüssig, welchen Stellenwert Muffins im Geschimpfe eines paranoiden Schizophrenen einnahmen – aber vielleicht mochte der Kerl sie ja bloß.
Der Gedanke ließ ihm den Magen knurren. Er hatte heute früh nicht mehr als eine Banane runtergebracht, und jetzt war es schon nach zwei. Er sah auf die Armbanduhr. Butts war spät dran; er war im Riverside Park gewesen, wo die Spurensicherung nach Fingerabdrücken, Haaren und sonstigem verwertbaren Beweismaterial suchte. Lee hatte wenig Hoffnung, dass sie etwas Brauchbares fanden. Hunderte von Menschen liefen jeden Tag durch den Park, ein Tatort wie dieser war also schon per definitionem verunreinigt. Er wusste, dass gerade Butts das Fehlen von Beweismaterial ganz besonders frustrierte, genau wie die öffentliche
Weitere Kostenlose Bücher