In sueßer Ruh
ist, dass es bei Melville ein starkes nihilistisches Moment gibt. Das könnte ein Grund sein, warum sich unser Unbekannter zu ihm hingezogen fühlt.«
»Ich verstehe nicht, worauf das hinausläuft«, grummelte Butts, der das Regenwasser aus seiner Krawatte in den Papierkorb auswrang.
»Also, zunächst einmal würde die Kenntnis von Melvilles Werken auf ein bestimmtes Bildungsniveau hinweisen«, meinte Lee. »Und das korrespondiert mit einem bestimmten sozialen Status. Das engt die Sache ziemlich ein.«
»Und der Nihilismus?«, fragte Chucks und schnäuzte sich.
»Da mein Fachgebiet forensische Linguistik ist«, sagte Krieger, »meine ich, es wäre sinnvoll, die Natur des –«
»Ich verstehe nicht, wie«, murmelte Butts.
»Also schön, Detective, hören Sie endlich auf!«, brüllte Chuck ihn an. »Wir arbeiten entweder als Team oder gar nicht – verstanden?«
»Okay«, erwiderte Butts. »Tut mir leid. Es ist nur einfach so, dass ich nicht –«
»– verstehe, was Linguistik mit diesem Fall zu tun hat?«, beendete Lee den Satz für ihn.
»Genau.«
»Darf ich Sie daran erinnern, dass forensische Linguistik zur Ergreifung und Verurteilung des Unabombers geführt hat«, sagte Krieger steif.
»Ach, kommen Sie –«, begann Butts, aber Morton brachte ihn mit einem bitterbösen Blick zum Schweigen, der allerdings von einem heftigen Niesanfall torpediert wurde.
»Scheint so, als hätten Sie sich mit einem Erkältungsvirus infiziert«, bemerkte Krieger.
Chuck warf auch ihr einen stechenden Blick zu, schnappte sich eine Handvoll Taschentücher und putzte sich die Nase. »Bislang haben wir weder Fingerabdrücke noch Spuren, noch eine DNS«, zählte er für Butts auf. »Lassen Sie Detective Krieger also doch bitte weitersprechen.«
Der Detective presste die Lippen aufeinander und starrte auf seine Schuhe. Auf dem Boden hatte sich um ihn herum eine Wasserpfütze gebildet. Als er es sah, sagte Morton: »Wollen Sie sich vielleicht umziehen?«
»Nein, ist schon okay«, murmelte Butts.
»Und du?«, fragte Chuck Lee, der wegen der Klimaanlage fröstelte.
»Alles bestens.«
»Sie glauben also, unser Unbekannter ist ein Nihilist?«, fragte Chuck Krieger.
»Ich weise nur darauf hin, dass bestimmte Motive Melvilles Werk durchziehen, die darauf hindeuten könnten –«
»Aber das hieße ja, davon auszugehen, dass die Wahl von Melvilles Grab etwas zu bedeuten hat«, gab Butts zu bedenken.
»Genau«, stimmte Lee zu. »Aber auch wenn wir uns dessen nicht sicher sein können, ist doch davon auszugehen, dass es Absicht war, finden Sie nicht?«
»Kann schon sein«, knurrte Butt mit einem Seitenblick auf Krieger, die ihre Perlenkette zwischen den Fingern drehte. Ihre langen Fingernägel waren hellrot lackiert. »Wie war das noch mal mit dem nihilistischen Moment?«
»Melvilles bedeutendster Roman handelt vom aussichtslosen Kampf gegen Gott und die Natur beziehungsweise die Mächte des Bösen, je nach Betrachtungsweise«, erklärte sie. »Und im Zentrum seiner wichtigsten Kurzgeschichte steht der erste große Nihilist der Literaturgeschichte.«
»Bartleby der Schreiber« , sagte Lee.
»Richtig.«
»Schön«, meinte Butts, »aber was sagt uns das über unseren Unbekannten?«
»Dass er in seinem Leben starke Ausgrenzung und Vereinsamung erlebt haben muss«, sagte Krieger.
»Aber könnte man das nicht über all diese Typen sagen?«, widersprach Butts. »Ist das nicht mehr oder weniger selbstverständlich?«
»Es gibt verschiedene Formen von Ausgrenzung und Vereinsamung«, entgegnete Lee. »Und sie wirken sich unterschiedlich auf Menschen aus. Bei unserer unbekannten Person zum Beispiel gibt es einige ungewöhnliche Aspekte.«
»Und die wären?«, fragte Chuck.
»Nun, er vergewaltigt seine Opfer nicht. Er verletzt sie nicht.«
»Es sei denn, man zählt dazu, dass er ihnen das Blut ablässt«, bemerkte Butts.
»Ich meine damit, dass er sie überwältigt, ohne Gewalt anzuwenden. Und auch der Tötungsakt selbst ist nicht von Raserei getrieben. Er ist zwar pervers, aber auch sonderbar.«
»Antiseptisch?«, schlug Chuck vor.
»Ja, das beschreibt es sehr gut. Das Ganze hat etwas von einer Vermeidung. Und etwas seltsam Passives.«
»Wie Bartleby«, sagte Krieger mit einem Lächeln.
»Genau«, stimmte Lee zu. »Wie Bartleby.«
»Ich habe die Geschichte mal in der Schule gelesen«, sagte Chuck. »Was hat er noch mal immer gesagt?«
»Ich möchte lieber nicht« , antwortete Krieger.
»Stimmt – ich möchte lieber nicht
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