In sueßer Ruh
Pflicht.
»Chuck Morton hat sein Büro gerade verlassen«, erklärte Ruffles und schlurfte Elena beflissen hinterher, als sie auf Chucks Büro zusteuerte. »Aber Detective Butts ist da.«
Abscheu sammelte sich wie Galle in Elenas Mund. Sie erwog kurz, etwas Zeit mit Ruggles zu verbringen, um das Betreten des Büros hinauszuzögern, fühlte sich in seiner Nähe aber unbehaglich. Sein Eifer, ihr zu gefallen, war lästig, und sie war entschlossen, ihn in keinster Weise auch noch anzuspornen. Nein, sie würde mit Detective Butts an diesem Fall zusammenarbeiten, und so tat sie, was Elena Krieger angesichts von Widrigkeiten immer tat: Sie bot ihrem Schicksal tapfer die Stirn. Also straffte sie ihre breiten Schultern und stieß die Tür zu Chuck Mortons Büro auf.
Dort hockte wie ein Murmeltier in seinem Bau Detective Leonard Butts und hatte es sich an Mortons Schreibtisch gemütlich gemacht. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass er sich sein Frühstück mitgebracht hatte und gerade dabei war, es zu verzehren. Überall lagen Sandwichverpackungen verstreut. Dazu gesellte sich ein Pappbecher Kaffee mit fettigen Fingerabdrücken. Sie unterdrückte einen unwillkürlichen Schauder und machte die Tür hinter sich zu.
Butts sah auf und wischte sich mit einem schmuddeligen Taschentuch den Mund ab. »Hallo – wie steht’s?«
Ihre Unterlippe kräuselte sich angeekelt, aber Butts bemerkte es nicht. Er konzentrierte sich auf sein Frühstück, schmatzte und schlürfte in großen Schlucken den Kaffee. Das war noch so etwas, das sie an ihm nicht ausstehen konnte – wie er sein Essen so schamlos genoss. Das war ungehörig und vulgär. Es war ja nichts daran auszusetzen, seine Freude am Essen zu haben, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. Dieses ganze Geschmatze und wohlige Seufzen und Grunzen war nicht nur überflüssig, sondern störend. Sie konnte nicht begreifen, wieso er das nicht einsah und sich nicht darüber im Klaren war, wie er beim Essen auf andere wirkte.
Manche hätten vielleicht gesagt, Elena Krieger sei zwanghaft, was Essen, Sinnlichkeit und Anstand anging. Oder hätten sie sogar einen Kontrollfreak genannt. Sie hingegen hielt sich lieber für jemanden, der sehr diszipliniert war. Ihre Einstellung zu sämtlichen Körperfunktionen, einschließlich Sex – nein, besonders Sex –, bestand darin, dass es für sie alle einen geeigneten Ort gab und sie gezügelt werden mussten. Keinesfalls sollte es irgendeinem körperlichen Verlangen gestattet werden, an die Stelle dessen zu treten, was sie als die rechtmäßige Aufgabe der Menschheit ansah: jederzeit Anstand und korrektes Benehmen zu wahren. Deshalb war sie zur Strafverfolgung gegangen: Verbrechen beleidigte ihren Sinn für Anstand und gute Sitten.
Sie betrachtete diesen Wurm von Mann, der vor ihr saß. »Alles in Ordnung«, sagte sie.
Sollte Butts die Verachtung in ihrer Stimme gespürt haben, ließ er es sich nicht anmerken. Er steckte sich schnell den Rest seines Eisandwichs in den Mund, schlang es auf einmal hinunter und schlürfte seinen Kaffee aus. Dann zerknüllte er das Wachspapier, stopfte es in den Pappbecher und warf ihn in den Papierkorb. Bevor er aufstand, fegte er die Krümel vom Schreibtisch.
»Wir könnten genauso gut anfangen. Mortons Termin dauert noch, und der Doc liegt mit irgend ’nem Virus flach.«
»Was können wir denn ohne sie tun?«
»Mal genauer anschauen, was wir bis jetzt haben, und sehen, ob uns irgendwas auffällt.«
Er ging hinüber zur Korkpinnwand, an der wie aufgespießte Schmetterlinge die Fotos der Opfer hingen. Elena mochte es nicht, sie anzusehen. Einer der Gründe, warum sie sich auf forensische Linguistik spezialisiert hatte, war, dass sie es weniger quälend fand, Schriftstücke zu analysieren, als tote Menschen zu betrachten. Drohmails, Abschieds- und Erpresserbriefe setzten einem nicht annähernd so zu wie Fotos von Mordopfern.
Unter den in Großbuchstaben geschriebenen Namen der Opfer standen Ort und Zeitpunkt ihres Auffindens. Darunter hingen Fotos von ihnen aus glücklicheren Tagen, die ihre Angehörigen zur Verfügung gestellt hatten. Sie saßen darauf an Thanksgiving am Esstisch oder waren für den Abschlussball der Highschool angezogen und lächelten breit in die Kamera. Ganz unten befanden sich Aufnahmen von den Fundorten, einige von den Opfern selbst, andere von der näheren Umgebung.
Elena mochte weder die einen noch die anderen. Sie hatte eine Abneigung dagegen, keine Kontrolle über ihre Gefühle zu
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