In sueßer Ruh
er aus wie der Imitationsversuch eines Ermittlers.
»Was genau meinen Sie mit schwach?«
»Ted Bundy war, was wir einen echten Psychopathen nennen würden. Das heißt, ihm fehlte die Fähigkeit zur Reue, zu einem schlechten Gewissen oder sich in andere Menschen einzufühlen. Da er über diese Merkmale für eine integrierte Persönlichkeit nicht verfügte, musste er sich eine neue erfinden – im Grunde um zur Simulation eines menschlichen Wesens zu werden. Das Beängstigende an Bundy war sein Charme, seine Fähigkeit, andere glauben zu lassen, er wäre einer von ihnen. Dabei gab er sich nur als menschliches Wesen aus. Aber er war verdammt gut, und erstaunlich viele Leute haben es ihm abgekauft. Selbst als alle Indizien gegen ihn sprachen, wollte es keiner glauben.«
»Bis er diese Fähigkeit verloren hat.«
»Richtig.«
Butts schlüpfte kurz vor Ende der Vorlesung hinaus, Lucille Geffers dagegen blieb, das Kinn in die Hände gestützt, in der letzten Reihe sitzen und beobachtete ihn aus ihren dunklen Augen. Nach Beendigung seines Vortrags verließ Lee den Saal durch die Seitentür, weil er niemandem begegnen wollte. Er war erschöpft und wollte bloß noch nach Hause, einen Scotch trinken und sich in eine Partitur von Bach vertiefen.
Er sah auf und Lucille Geffers auf sich zukommen. Sie trug eine kakifarbene Jodhpourhose, ein kragenloses weißes Hemd und die üblichen Birkenstocksandalen.
»Das war sehr hilfreich«, sagte sie. »Genau so was haben die Studenten jetzt gebraucht, wo dieser sogenannte Van-Cortlandt-Vampir frei rumläuft.«
»Freut mich«, erwiderte er.
»Essen Sie mit mir zu Mittag?«, fragte sie und kippte den Kopf so, dass ihr krauser Pony zur Seite fiel. Sie hat schöne Augen, dachte Lee, groß und dunkel und ausdrucksvoll.
»Gern«, sagte er.
»Ich muss einiges mit Ihnen besprechen.«
Sie brachte ihn zu einem Italiener ein paar Blocks südlich der Tenth Avenue, der rot-weiß karierte Tischdecken, große Portionen hausgemachter Pasta und eine ansehnliche Weinkarte hatte. Der Geruch von frischem Knoblauch hing in der Luft, und aus der kleinen Küche im Hintergrund drang das fröhliche Blubbern von Tomatensoße.
Nachdem sie Platz genommen hatten, kramte er ein paar Ibuprofen hervor und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Dann bestellte er sich einen Johnny Walker Black, pur.
Sie lächelte. »Ich denke, Sie dürfen das, in Anbetracht dessen, was in Ihrem Leben passiert ist.«
Er sah sie an, dankbar, nicht verurteilt zu werden. Er verurteilte sich unter den gegebenen Umständen selbst schon hart genug – ein Trick, den er von beiden Eltern gelernt hatte. Alte Gewohnheiten legt man schwer ab, dachte er.
»Lassen Sie uns bestellen«, sagte Lucille. »Ich habe Mordshunger.«
Bei einer Schüssel Fettuccine Primavera und einer Flasche Chianti eröffnete ihm Lucille, dass sie ihn für die Assistenzprofessur im Fachbereich Philosophie vorgeschlagen hatte.
»Ich weiß, ich hätte Sie vorher fragen sollen«, sagte sie, wobei sie ihre Papierserviette nervös um den Zeigefinger zwirbelte. »Aber ich hatte Angst, Sie könnten Nein sagen.« Sie warf Lee einen Blick zu, und als er nicht darauf einging, fuhr sie fort: »Wie auch immer, um zum Punkt zu kommen: Wir hätten gern, dass Sie sich überlegen, Teilzeitdozent in unserem Fachbereich zu werden.«
»Warum im Fachbereich Philosophie? Ich habe einen Abschluss in Psychologie.«
Sie lächelte. »Psychologie ist ohnehin schon der größte Fachbereich am College, da gibt’s nun wirklich keine offenen Stellen. Aber uns sind kürzlich ein paar Leute abhandengekommen. Ein Professor ist in Rente und ein anderer weggezogen, weil er nach den Anschlägen um die Sicherheit seiner Familie besorgt war.«
»Ich schätze Ihr Vertrauen wirklich sehr«, sagte er. »Ich bin mir nur nicht sicher, ob es der richtige Zeitpunkt für mich ist.«
»Mir ist bewusst, was Sie alles durchgemacht haben. Aber Sie sind nun mal einfach in einer einmaligen Position.«
Das stimmte allerdings. Bislang hatte es im NYPD noch nie eine volle Stelle für einen Profiler gegeben. Erst durch Chuck Mortons beharrlichen Druck auf das Department, Lee einzustellen, hatte er den Job bekommen. In gewisser Weise kam er sich noch immer so vor, als wäre er in der Probezeit. Sowohl bei hochrangigen Beamten als auch beim Fußvolk stieß er auf Widerstand.
Sie versanken in Schweigen, und die einzigen Geräusche im Raum waren leises Gesprächsgemurmel, Besteckklappern an den
Weitere Kostenlose Bücher