In sueßer Ruh
Motive. Zunächst einmal ereignen sich die meisten Morde zwischen Menschen, die sich kennen. Das trifft auf den Serientäter selten zu. Er mag seine Opfer vielleicht namentlich kennen, so wie John Wayne Gacy die Jungs kannte, die er sich als Opfer aussuchte. Er traf sie und lernte sie jedoch einzig und allein kennen, um sie umzubringen. Noch aufschlussreicher ist die Tatsache, dass Ted Bundy während seiner Mordserien mehrere Freundinnen hatte, denen er nie etwas antat. Richard Speck war verheiratet und suchte sich seine Opfer ebenfalls außerhalb der Familie – und so weiter.«
Die junge Frau in der ersten Reihe hob die Hand. »Liegt das daran, dass ihnen an den Menschen, die ihnen nahestehen, zu viel liegt?«
»Wie Hemingway sagte, wäre es sehr hübsch, so zu denken. Die wahrscheinlichere Erklärung ist allerdings, dass sie sich für Fremde entscheiden, weil das ihre Chancen erhöht davonzukommen. Sobald sie jemanden aus ihrem unmittelbaren Umfeld auswählen, ist ihre Verbindung zum Opfer offenkundig. Sie mit verhältnismäßig Fremden in Verbindung zu bringen stellt für die Strafverfolgungsbehörden dagegen eine Herausforderung dar.«
»Bringen sie deswegen so häufig Prostituierte um?«
»Prostituierte sind das, was wir als stark gefährdete Opfergruppe bezeichnen, also Personen, deren Lebensführung sie größeren Gefahren aussetzt als Normalpersonen. Sie steigen zu jedem ins Auto, tragen Bargeld bei sich und üben ihren Beruf in kriminalitätsbelasteten, gefährlichen Vierteln aus. Leider führt das zu einer proportional größeren Anzahl von Verbrechen gegen diese Frauen.«
Jetzt meldete sich in der dritten Reihe ein gebildet wirkender junger Mann mit beeindruckenden Rastalocken.
»Ja, bitte?«
»Hat der Green River Killer sie deshalb als Opfer ausgewählt?«
»Ja, und er hat außerdem gewusst, dass sich die Gesellschaft für diese sogenannten verfügbaren Opfer offensichtlich nicht interessiert. In gewisser Weise hat er so Zeit gewonnen. Wie ich schon sagte, der sexuelle Serientäter unterscheidet sich von den meisten anderen Mördern, weil sein Tatmotiv ein anderes ist. Die meisten Menschen töten eben aus leicht erkennbaren Gründen wie Profit, Eifersucht, Rache, Leidenschaft und so weiter. Das Objekt ihrer Tat ist häufiger jemand, den sie kennen, als jemand Fremdes. Jemand, dessen Tod einen Sinn für sie ergibt – ein untreuer Mann oder eine untreue Frau, ein Geschäftspartner, den man aus dem Weg haben will, so etwas. Für die meisten Straftäter ist Morden eine unangenehme Methode, um zu bekommen, was sie wollen: Geld, den Tod eines verhassten Ehepartners oder Familienmitglieds, Rache an jemandem, der sie gekränkt hat, et cetera.«
Die Tür zum Flur ging auf, und er sah Lucille Geffers auf eine Bank in der letzten Reihe rutschen. Er fuhr fort.
»Die Verbrechen eines sexuellen Serientäters hingegen sind psychologisch nicht so einfach nachzuvollziehen. Denn seine Motivation, das, was ihn antreibt, ist das Töten an sich. Der Mord ist kein Mittel zum Zweck, sondern er ist der Zweck – sollte es anfangs nicht so sein, irgendwann wird es das. Manchmal ist seine erste Tat gar nicht geplant – eine aus dem Ruder gelaufene Vergewaltigung zum Beispiel –, aber ist die Gewalt erst einmal eskaliert, ist er höchstwahrscheinlich nicht zu stoppen, bis er gefasst ist. Das Morden selbst wird zur Belohnung.«
Eine weitere Hand ging nach oben, die einer groß gewachsenen Latina mit langen braunen Haaren und dicken Brillengläsern.
»Ist das der Antrieb des Van-Cortlandt-Vampirs?«
Ein Murmeln ging durch den Raum.
»Tut mir leid, aber zu einer laufenden Ermittlung kann ich nichts sagen«, erwiderte Lee.
»Stimmt es, dass Sexualtäter dazu neigen, immer gewalttätiger zu werden?«, fragte die junge Frau.
»Auf jeden Fall. Sex im Zusammenhang mit Gewalt erregt sie. Und je selbstsicherer sie werden, desto wohler fühlen sie sich dabei, ihre perversen Phantasien auszuloten.«
»Ist das auch bei Bundy passiert?«, fragte der junge Mann mit den Rastalocken.
»Zum Zeitpunkt von Ted Bundys Morden in der Studentinnenverbindung befand er sich in der Abwärtsspirale einer eindeutigen Psychose. Der Verfolgungsstress setzte ihm zu, und seine ohnehin schon schwache Persönlichkeit konnte dem nicht standhalten.«
Noch eine Hand hob sich. Lee war überrascht festzustellen, dass sie Leonard Butts gehörte, der in der letzten Reihe fläzte. In seinem zerknitterten Trenchcoat und mit dem verbeulten Filzhut sah
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