In sueßer Ruh
Das wahrscheinlichste Gebiet, in dem unser Mörder lebt, befindet sich hier«, sagte sie und zog einen Kreis um einen Teil der Bronx, der im Osten den Woodlawn-Friedhof und den Botanischen Garten und im Westen Riverdale einschloss.
»Verstanden«, meinte Quinlan. »Zwei unserer Opfer wurden hier oben abgeladen. Aber was ist mit dem Fundort in Midtown?«
»Mrs Rosario passt auch sonst nicht ins Opferprofil«, gab Lee zu bedenken. »Sie ist anderer Hautfarbe als die ersten beiden Opfer und nicht in ihrer Altersklasse.«
»Und außerdem hat er sie am selben Ort zurückgelassen, wo er sie umgebracht hat, was bei den anderen nicht zutrifft«, ergänzte Butts. »Dem ersten Opfer, Candy, ist er in Downtown begegnet, abgelegt hat er es aber im Norden.«
»Deshalb halte ich es für ziemlich wahrscheinlich, dass er ein Transportmittel besitzt«, sagte Lee. Er schrieb es ebenfalls an die Tafel und darunter: verfügt über Körperkraft. »Auch das können wir als gegeben voraussetzen: dass er ziemlich kräftig ist.«
»Weil er es geschafft hat, eine Leiche über die Mauer des Woodlawn-Friedhofs zu befördern?«, fragte Krieger.
»Richtig. Es sei denn –« Er brach ab, die Hand mit dem Filzstift schwebte in der Luft. In einem Gedankenblitz war ihm die Bedeutung seines Traums letzte Nacht klar geworden.
»Was denn?«, sagte Krieger.
»Wir vermuten, dass er sie so hineingebracht hat. Aber wenn wir uns täuschen?«
»Durch den Haupteingang ist er nicht«, meinte Quinlan. »Wie also sonst?«
»Ich glaube, ich weiß eine andere Möglichkeit hineinzukommen«, sagte Lee.
»Und welche?«, fragte Butts.
»Durch den Botanischen Garten. Er grenzt an den Friedhof und ist nur durch einen Zaun und einen seichten Bach von ihm getrennt.«
»Sie sagen, da gibt’s einen Zaun?«, warf Butts ein.
»Ja, aber der ist nicht immer überall in Ordnung. Da sind gelegentlich Löcher drin.«
Krieger zog die Augenbrauen zusammen. »Woher wissen Sie denn das?«
»Weil ich selbst mal ein Loch gefunden habe und mich vom Garten aus auf den Friedhof geschlichen habe.«
Butts grinste. »Schau einer an, da gibt’s ja noch immer ’ne Menge, was ich gar nicht von Ihnen weiß, Doc.«
»Wann war das?«, fragte Krieger.
»Wieso, wollen Sie ihn vielleicht wegen unerlaubten Betretens verhaften?«, fuhr Butts sie an.
»Okay, okay«, sagte Quinlan. »Wir sollten ein Team rüberschicken, um einen Beleg dafür zu finden, meinen Sie nicht auch?«
»Auf jeden Fall«, stimmte Lee ihm zu. »Tut mir nur leid, dass mir das nicht früher eingefallen ist.« Was er ihnen nicht erzählte, war, dass er in den Wochen nach dem Verschwinden seiner Schwester auf das Loch gestoßen war. Er hatte alle fünf Stadtbezirke durchstreift, in der verzweifelten Hoffnung, irgendetwas – gleich, was – über ihren Verbleib herauszufinden. Eines Tages war er auf den Gedanken gekommen, die Außenränder von Woodlawn abzusuchen, und dabei hatte er dieses Loch im Maschendrahtzaun entdeckt. Selbst damals war ihm klar, dass sein Verhalten irrational war, aber das kümmerte ihn nicht. Er musste einfach irgendetwas tun, ganz egal, wie dämlich es war. Wahrscheinlich war der Zaun deshalb in seinem Traum aufgetaucht – glücklicherweise, wie sich herausstellte. Einige dieser Tage lagen in seiner Erinnerung so im Nebel, dass er ohne diesen Traum vermutlich nie wieder daran gedacht hätte.
»Wir sollten auch das Personal des Botanischen Gartens befragen«, führte Krieger an. »Vielleicht ist der Mörder ja jemand, der dort arbeitet.«
»Oder einer der Angestellten hat ihn gesehen«, stimmte Butts zu.
»Darum kümmere ich mich«, erklärte Quinlan. »Liegt in der Nähe meines Reviers.«
»Da ist noch etwas, das wir in Betracht ziehen sollten«, sagte Lee. Er drehte sich um und schrieb an die Tafel:
– Stressfaktor?
»Sie meinen, was in seinem Leben vorgefallen ist, das ihn zu dieser Mordserie getrieben hat?«, fragte Butts.
»Genau. Gesetzt den Fall, dies sind seine ersten Opfer, kann der auslösende Stressfaktor nicht lange zurückliegen.«
Krieger verschränkte ihre langen, muskulösen Arme. »Von welcher Art Ereignis reden wir in Bezug auf diesen Täter, was meinen Sie?«
»Schwer zu sagen, jedenfalls nicht mit Sicherheit. Aber ich würde nach einem Jobverlust, dem Tod eines nahestehenden Menschen, einer gescheiterten Beziehung oder so etwas Ähnlichem Ausschau halten – vielleicht sogar nach einer Mischung aus mehreren Elementen. Was immer es war, es hat ihn ausrasten
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