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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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war enorm. Lee wusste, dass Chuck immer tat, was er konnte, um seine Untergebenen zu schützen. Aber man konnte immer nur so viele Belastungen tragen, dass man nicht wie ein Ast unter ihnen zerbrach. Dieses vergangene Jahr musste die Hölle für ihn gewesen sein.
    Das alles war ihm bewusst, und trotzdem siegte sein rechtschaffener Zorn über den vernünftigen Teil seines Verstands. Seine gesamte Wut braute sich zusammen wie ein Wirbelsturm und schraubte sich aus seiner Mitte nach oben.
    »Guter Gott, Chuck, hörst du eigentlich, was du da sagst?«, schrie er. »Du redest wie ein Idiot!«
    Chucks Zorn entsprach seinem. »Ja, na klar bin ich ein Idiot, dass ich einem wie dir vertraut habe!«
    »Pass auf, was du sagst –«
    »Nein! Du passt auf, was du sagst! Wie kommst du dazu, meine Frau zu beschuldigen, unseren Fall zu sabotieren?«
    »Das habe ich nicht gesagt –«
    »Einen Scheiß hast du nicht! Versuchst du, unsere Ehe kaputt zu machen, damit du sie wieder für dich haben kannst? Geht es darum?«
    Der Tornado in Lees Kopf kam zum Stillstand, und alles, was er empfand, war Traurigkeit. »Lieber Gott, Chuck, hör doch nur, was du da redest.«
    Doch Chucks Wut hatte ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. »Ich dachte, ich könnte dir vertrauen – von allen Leuten, dachte ich, bist du der Einzige, der mich nie belügt!«
    »Das würde ich auch nicht«, sagte Lee leise, aber die Gekränktheit und das Misstrauen im Blick seines Freundes schmerzten ihn.
    Er drehte sich um und ging aus dem Büro.

KAPITEL 55
    Davey lief über den gepflasterten Weg zu dem weitläufigen viktorianischen Haus in Riverdale und achtete dabei darauf, nicht auf die Ritzen zwischen den Klinkern zu treten. Das brachte Unglück. Er konnte es nicht lassen, bestimmte abergläubische Warnungen zu befolgen, obwohl er nicht an sie glaubte. Schon als Kind hatte er es vermieden, auf die Ritzen zu treten, und wenn er erst einmal damit begonnen hatte, etwas auf eine bestimmte Weise zu tun, fiel es ihm sehr schwer, dieses Verhalten wieder abzulegen. So wählte er sorgfältig seinen Weg und tat sein Bestes, dem feinen Wasserschleier aus dem Sprinkler der Rosenbaums auszuweichen.
    Die Häuser in diesem Teil von Riverdale waren groß, lagen aber ziemlich eng aneinandergeschmiegt. Unglücklicherweise waren die Rosenbaums nette Leute und winkten ihm immer fröhlich zu, wenn sie ihn zufällig sahen. Er winkte immer zurück, vermied es allerdings nach Möglichkeit, mit ihnen zu reden. Meist gab er vor, in Eile zu sein, wenn er zu seinem Wagen hinausflitzte oder sich ins Haus drückte und die Tür hinter sich verriegelte. Die Rosenbaums waren ein fröhlicher, lautstarker Haufen, die mit Babys, Hunden und Picknickkörben im Schlepptau ins Auto stiegen, um zu Fußballspielen, Gartenpartys oder sonst was zu fahren, womit sich normale Menschen so beschäftigten.
    Davey war nicht normal. Das war ihm bewusst, seit er denken konnte – er war sich nur nicht sicher, ob andere es spürten oder nicht. Tag und Nacht brannte ein quälendes Verlangen in ihm, das mitunter religiöse Züge annahm, eine alles verzehrende Gier nach dem Blut junger Frauen. Er glaubte – nein, er wusste –, dass es ihn davor bewahren würde, das gleiche Schicksal zu erleiden wie seine Schwester.
    Kurz nach ihrem Tod hatten die Träume begonnen, in denen er genauso dahinsiechte wie sie. In diesen Nächten wachte er in panischer Angst schreiend und zitternd auf, bis seine Tante Rosa kam, um ihn zu beruhigen. Kein anderer kam je, um ihn zu trösten und im Arm zu halten. Nach Edwinas Tod war seine Mutter kalt und distanziert geworden, wanderte in einem weißen Flanellnachthemd wie ein Geist durch ihr geräumiges Haus, verzweifelt und verloren, drehte Haarsträhnen zwischen den Fingern, während sie aus dem Fenster auf die Baumreihe starrte, als wartete sie auf einen unbekannten Besucher. Sein Vater wurde ernster und schweigsamer. Das Haus war wie ein Grab, mit Davey als dem einzigen lebendigen Bewohner.
    Jetzt waren beide tot – aus Kummer gestorben, wurde gemunkelt –, während Davey im Schatten beobachtete und wartete. Nach ihrem Tod lebte er weiterhin in dem großen Haus, streifte durch die leeren Zimmer, die einst vom Lärm und Getrampel einer kompletten Großfamilie erfüllt gewesen waren. Jetzt gab es nur noch ihn und seine Tante Rosa, deren Blut ebenfalls vergiftet war. Sie nannten es Leukämie, aber das lief aufs Gleiche hinaus – ihr Blut war schlecht. Da hatte er begriffen, dass auch er

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