In Todesangst
Shorts, Unterwäsche, ein paar Tops. Die Sachen sahen brandneu aus; kein Wunder, schließlich hatte Syd Milford verlassen, ohne irgendetwas mitzunehmen. Außerdem fand ich zwei Telefonkarten und ein paar Ausdrucke aus dem Internet, darunter eine Kopie der Website, die ich für sie eingerichtet hatte, und die Online-Version eines Artikels aus dem New Haven Register, der über ihr Verschwinden berichtete.
»Haben Sie einen Computer, den ich benutzen könnte?«, fragte ich Madeline.
»Ja, drüben im Büro habe ich einen für unsere Aushilfen. Damit sie E-Mails nach Hause schreiben können und so.«
»Hat Syd ihn benutzt? Kerry, meine ich.«
»Ja, eigentlich jeden Tag.« Mit einem Nicken deutete sie auf die Ausdrucke in meiner Hand. »Ja, sie hat sich öfter etwas ausgedruckt, aber ich weiß nicht, was. Sie hat auch immer den Verlauf gelöscht, wenn sie fertig war.«
»Ist Ihnen heute Abend etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«, fragte ich sie. »Sind irgendwelche Leute aufgetaucht, die Sie nicht kannten?«
»Ich führe eine Pension«, gab Madeline zurück. »Ich lerne so gut wie jeden Tag Leute kennen, die ich noch nie im Leben gesehen habe.«
»Ist dir etwas aufgefallen?«, fragte ich Wyatt.
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich nie sonderlich um sie gekümmert.«
Ich wandte mich zu Bob. »Was machen wir jetzt?«, sagte ich.
Müde schüttelte er den Kopf im trüben Licht. Auch er schien am Ende seines Lateins zu sein.
»Vielleicht ist es doch besser, wenn wir Detective Jennings informieren«, sagte ich.
»Wen?«, fragte Madeline.
»Was ist mit Ihren anderen Aushilfen?«, fragte ich. »Gibt es jemanden, mit dem Syd sich angefreundet haben könnte?«
»Alicia«, erwiderte Madeline. »Sie schläft in der Hütte da drüben. Ich habe die beiden ein paarmal miteinander reden sehen.«
»Wir müssen mit ihr sprechen«, sagte ich. »Sofort.«
Einen Moment sah es so aus, als wolle Madeline widersprechen, doch dann zuckte sie lediglich die Achseln. Ihr Hausmantel flatterte in der leichten Brise, als sie uns zur übernächsten Hütte führte und anklopfte.
»Alicia? Ich bin’s, Madeline!«
Sekunden später ging drinnen Licht an, und kurz darauf erschien ein ziemlich verschlafen dreinschauendes Mädchen in der Tür. Ich schätzte sie auf neunzehn oder zwanzig. Sie trug ein T-Shirt und eine Schlafanzughose. Als sie sah, dass Madeline nicht allein war, machte sie die Tür wieder ein Stück weit zu.
Sie musterte uns ängstlich. »Was ist denn los? Ist irgendwas passiert?«
»Diese Männer wollen mit dir reden«, sagte Madeline. »Es geht um Kerry.«
»Warum?«
»Ich bin ihr Vater«, sagte ich. »Wir müssen sie finden. Es ist sehr wichtig.«
»Sie ist in der Hütte da drüben«, sagte Alicia, als wären wir komplette Idioten.
»Nein«, sagte Madeline. »Sie ist verschwunden.«
Alicia nickte zögernd, als ginge ihr langsam ein Licht auf. »Okay«, sagte sie, wobei sie das Wort wie ein Kaugummi in die Länge zog.
»Und?«, sagte ich.
»Na ja, Kerry ist ja sowieso immer supernervös.« Sie sah Madeline an, die zustimmend nickte. »Aber heute war sie echt total durch den Wind. Heute Nachmittag habe ich hier gesessen und den neuen Stephen King gelesen, und plötzlich kommt Kerry um die Ecke. Sie sah aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Also, jedenfalls hat sie dann ihren Rucksack geholt, und als ich sie gefragt habe, wo sie hinwollte, hat sie bloß gesagt, sie müsste dringend weg.«
»Aber warum?«, sagte ich. »Hat sie nicht gesagt, wovor sie Angst hatte?«
»Nö. Aber irgendwas war los, das habe ich genau gemerkt.«
»Und wann war das genau?«, fragte ich.
»So gegen fünf.«
»Wo wollte sie hin?«
»Keine Ahnung. Na ja, erst war sie Richtung Parkplatz unterwegs, aber dann ist sie plötzlich umgedreht. Als wäre da jemand, von dem sie nicht gesehen werden wollte.« Sie sah Madeline an. »Muss ich jetzt Kerrys Arbeit mit übernehmen?«
»Das besprechen wir später«, sagte Madeline.
»Wie gut kanntest du Syd?«, fragte ich. »Kerry, meine ich.«
»Nicht so gut, aber schon ein bisschen.«
»Was hat sie von sich erzählt? Sie hat doch bestimmt durchblicken lassen, dass etwas nicht in Ordnung war.«
»Nein, eigentlich nicht. Aber sie hat Angst vor fremden Leuten, jedenfalls will sie auf keinen Fall im Restaurant oder an der Rezeption arbeiten. Ehrlich, manchmal glaube ich, Kerry hasst Menschen. Sie hat ja nicht mal ein Handy. Sie meinte, sie würde keine mehr benutzen, sie wären
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