In Vino Veritas
geschrien hatte.
Dann fiel Hans-Hubert die Waffe aus der Hand. Mit einem metallischen
Krachen schlug sie auf den Boden. Er fasste sich an den blutenden Arm.
Und schrie wieder.
Die beiden Polizisten stürzten sich auf ihn. Während Hans-Hubert
brüllte, sich die offene Wunde hielt und gleichzeitig versuchte, die Angreifer
abzuwehren, drehten sie ihm die Arme auf den Rücken und legten ihm Handschellen
an.
Das Klacken erlöste Julius aus seiner Starre, und er stand auf,
fassungslos seinen Freund betrachtend, der nun heulte und sich auf dem Boden
zusammenrollte.
Julius sagte das Erste, was ihm einfiel. »Siehst du, Hans-Hubert,
der alte Hinckeldeyn hatte vollkommen Recht. Bei dir läuft immer alles schief.«
Von Reuschenberg kam auf ihn zu, die Waffe im Schultergurt
verstauend. Julius begrüßte sie zitternd.
»Sie haben sich aber Zeit gelassen!«
Von Reuschenberg klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Julius
war blass, seine Augen glasig.
»Wir haben uns so viel Zeit gelassen, weil Ihr Gespräch so anregend
war.«
Julius ging zur Regentonne und spritzte sich kühles Wasser ins
Gesicht. Es half nicht wirklich.
»Wieso sind Sie noch gekommen? Am Telefon meinten Sie, dass alles
Blödsinn sei. Haben Sie mir also doch geglaubt?«
»Nein. Aber ich muss nun einmal jeder Spur nachgehen. Ob ich will
oder nicht.«
»Gelobt sei Ihr Pflichtbewusstsein!«
Von Reuschenberg blickte Hans-Hubert nach, der von den beiden
Polizisten abgeführt wurde. In der Tür zum Restaurant erschienen die
Angestellten und einige der prominenten Gäste. Sie waren vom Schuss hergelockt
worden.
»War er nicht ein Freund von Ihnen?«
Julius zuckte mit den Achseln. »Hast du einen Freund hienieden /
Trau ihm nicht zu dieser Stunde / Freundlich wohl mit Aug und Munde / Sinnt er
Krieg im tück’schen Frieden.«
Dieser Vers klang so selbstverständlich. Aber Julius spürte, dass
ihn Hans-Huberts Taten getroffen hatten. Dass in dem Moment, da die Wahrheit
offenkundig wurde, sein Grundvertrauen in die Welt erschüttert worden war.
Seine Menschenkenntnis, auf die er sich so viel eingebildet hatte, war in Frage
gestellt. Wenn er sich in Hans-Hubert getäuscht hatte, wie stand es dann mit
den anderen Menschen, die ihm etwas bedeuteten? Natürlich fühlte er jetzt
Erleichterung, überlebt zu haben, Freude, den Täter gefasst und vielleicht
weitere Morde verhindert zu haben. Aber er hatte auch einen guten Freund
verloren. Und gute Freunde waren rar. Julius beschloss, nichts von diesen
Gedanken nach außen zu zeigen. Es war etwas, das er mit sich allein ausmachen
wollte.
»Wahr gesprochen. – Ich bring die ›Rote Bestie‹ dann mal in
eines unserer grauen Gefängnisse. Sie sollten sich um Ihre illustren Gäste
kümmern. Die schauen schon ganz interessiert.«
»Aber erst nach einem, zwei oder vielleicht auch drei Schnäpsen, um
den Puls wieder auf Normalmaß zu bringen. Dann werden die aber was zu hören bekommen.
Die werden sich wundern.«
»Und Ihre Großkusine erst!«
Die werde ich als Erstes anrufen, dachte Julius.
Von Reuschenberg schüttelte ihm die Hand. »Meinen ehrlichen
Glückwunsch … unter Kollegen.«
»Unter Kollegen ?!«
Sie sagte nichts, machte sich auf den Weg zu ihrem Auto, winkte nur
kurz über die Schulter. Dann drehte sie sich noch einmal um.
»Wussten Sie denn nicht, was ich für eine fabelhafte Köchin bin?«
Ihr herzliches Lachen hallte in der menschenleeren Straße wider.
Julius dachte, wie schön es klang.
Franz-Xaver stürmte auf ihn zu. »Mensch, wie bist nur auf den gekommen? Den hatt ich ja gar net auf der Rechnung!«
Julius musste nur kurz überlegen. Die Wahrheit hatte im Wein
gelegen, in einem Wein, der niemals produziert worden war, in einem Wein von
gestohlenen Rebstöcken.
»Es war ganz einfach, alter Freund. Wie die alten Lateiner so schön
sagen: In Vino Veritas !«
Digestif
»Warum haben Sie all die anderen eingeladen, wenn Sie doch
wussten, wer der Mörder war?«, fragte von Reuschenberg, während sie sich den
Lachs genüsslich auf der Zunge zergehen ließ. Sie hatte am Abend noch einmal
angerufen und darauf bestanden, das Mörder-Menü gekocht zu bekommen. Julius kam
diesem Wunsch direkt am nächsten Mittag nach. Das Wetter erlaubte es zum
wahrscheinlich letzten Mal in diesem Jahr, draußen zu sitzen, und er hatte
einen Tisch im Garten des Restaurants eingedeckt.
»Ich habe mir dabei zweierlei gedacht. Erstens wollte ich mich auf
meine Art bei denen entschuldigen, die ich zu
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