In weißer Stille
Hände gestützt und blickte nicht auf, als Dühnfort stoppte und ausstieg.
Für einen Moment blieb er neben dem Wagen stehen. Der Regen hatte nachgelassen. Durch ein Loch in der Wolkendecke schien der Vollmond und beleuchtete dürftig den Weg, der zur Uferstraße in etwa fünfzig Metern Entfernung führte. Dahinter glitzerte das Wasser des Starnberger Sees. Die Fahrertür des Steifenwagens wurde geöffnet. Ein Polizist stieg aus. Sein schmales Gesicht und die hervorstehenden runden Augen erinnerten Dühnfort an einen Karpfen. Der Kollege stellte sich vor: »Fischer. Der Tote ist im Bad.«
»Außer Ihnen hat niemand das Haus betreten?«
»Nein. Nur ich und natürlich Dr. Heckeroth. Er hat ihn ja gefunden.«
Als der Mann auf dem Beifahrersitz seinen Namen hörte, stand er auf. »Es ist meine Schuld«, sagte er.
Dühnfort musterte ihn. Im Mondlicht erschien sein Gesicht beinahe grau, die Lippen farblos. Die braunen Haare waren sehr kurz geschnitten, aber oberhalb der rechten Schläfe sträubte sich ein Wirbel.
»Wie meinen Sie das?«
Heckeroth fuhr sich über die Augen. »Eigentlich wollte er gestern Abend zurück sein, und als er heute Morgen noch nicht da war, hätte ich gleich nach ihm schauen sollen.« Langsam ließ er die Hand sinken. »Aber das hätte ja auch nichts mehr geändert.«
Dühnfort wollte sich den Toten ansehen. In aller Ruhe.Das war der Grund, weshalb er nach Möglichkeit Spurensicherung und Rechtsmedizin mit einer kleinen zeitlichen Verzögerung informierte. So blieben ihm einige ungestörte Minuten, bevor der Trubel losging. »Ich sehe mir das jetzt an. Sie warten bitte hier.«
Die Polizistin neben der Tür grüßte ihn. Sie hatte die gedrungene Figur, den rosigen Teint und die frische Ausstrahlung eines Landmädchens. »Polizeihauptmeisterin Christine Meingast. Kann ich mit reinkommen?«
»Besser nicht. Das ist sicher kein schöner Anblick.«
»Der Kollege Fischer hat mich schon nicht reingelassen und nun auch noch Sie. Ich will mich für das Auswahlverfahren zum gehobenen Dienst bewerben. Von daher wäre es gut, wenn ich mir das mal anschauen könnte.«
»Später. Es reicht, wenn der Leiter der Spurensicherung auf mich sauer ist.« Dühnfort zog Überschuhe an, sog die frische Luft ein und betrat das Haus.
Es stank unbeschreiblich. Nach Urin und Exkrementen, aber vor allem nach Verwesung. Vor ihm lag ein schmaler Flur. Holzboden, Flickenteppich. Eine Matratze lehnte links an der Wand. Die Tür rechts zum Schlafzimmer stand offen. Kissen, Decken und Laken waren auf dem Boden verstreut. Die beiden Matratzen des Doppelbetts fehlten. Die Tür auf der linken Seite des Flurs war geschlossen. Dühnfort streifte Latexhandschuhe über, bevor er sie öffnete. Eine Welle von warmer Luft und Verwesungsgeruch brandete ihm entgegen und nahm ihm den Atem. Der alte Mann saß vor dem Heizkörper auf dem Boden, die Beine ausgestreckt, den durch die fortgeschrittene Verwesung bereits grün verfärbten Kopf zur Brust gesenkt, die Arme ausgebreitet auf Schulterhöhe. Dühnforts Blick blieb an den Gürteln hängen, die um die Handgelenke geschlungen und an den Halterungendes Heizkörpers befestigt waren. Wolfram Eberhard Heckeroth hatte verzweifelt versucht, sich zu befreien. Haut und Fleisch waren weggescheuert, blanke Knochen schienen hervor. Dühnfort hätte gerne durchgeatmet, aber das musste noch einen Augenblick warten. An der Hose fehlte der Gürtel, der Bund schnitt in den durch Faulgase geblähten Bauch des Toten. Der Eintritt des Todes lag sicher schon drei, eher vier Tage zurück. Vor dem Fenster lehnte die zweite Matratze. Dühnfort blickte auf das Thermometer neben dem Spiegel – dreiundzwanzig Grad – und verließ das Bad.
Das Wohnzimmer war rustikal eingerichtet. Holzboden, Holzwände, bunte Flickenteppiche, dunkle Polstermöbel. Ein Kreuzworträtselheft lag auf dem Couchtisch. In der nicht abgetrennten Küche stand auf der Ablagefläche neben dem Herd ein Tablett, darauf ein Teller mit einem Salamibrot. Die vertrockneten Ränder bogen sich nach oben, Butter und Salamifett waren geschmolzen und in der Brotscheibe versickert. Ein beinahe leeres Weinglas stand daneben. Eine tote Fliege schwamm in einer Pfütze Rotwein. Ein zweites Glas und ein Teller befanden sich im Spülbecken.
Dühnfort ging hinaus, schloss die Tür hinter sich und sog die frische Waldluft tief ein. Sie trug den Geruch von Herbst und Pilzen, von See und Regen in sich. Dennoch konnte sie den Leichengeruch nicht
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