In weißer Stille
Marc kam herein. Er sah ganz zerknautscht und verschlafen aus. »Guten Morgen, Caro.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und musterte sie dann. »Was ist mit dir? Du wirkst bedrückt.«
»Ach. Es ist nichts.« Unwillig schüttelte sie den Kopf. Sie konnte doch Marc nicht mit der alten Geschichte behelligen, auch wenn sie ihr beinahe Übelkeit verursachte. Außerdem käme sie sich wie eine Verräterin vor. Doch mit diesem Gedanken stieg Zorn in ihr auf. Nein, sie würde sich nicht als Restauratorin dieses Scheiß-Familienbildes betätigen. »Du hast recht, mir liegt etwas im Magen.«
Marc schenkte sich Kaffee ein und setzte sich. »Erzählst du es mir?«
Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Warum nicht? »Als Albert elf oder zwölf war, hat mein Vater eines seiner Machtspielchen gespielt. Albert wäre dabei beinahe gestorben. Daran habe ich mich vorhin erinnert, und jetzt ist mir schlecht.«
Marc nahm ihre Hand. »Was ist damals geschehen?«
»Da müsste ich jetzt ziemlich weit ausholen, damit du das verstehen kannst.«
»Ich habe Zeit. Notfalls schwänze ich heute.« Für einen Augenblick erschien ein Strahlenkranz von Fältchen um seine Augen.
Es würde guttun, das einmal auszusprechen. Caroline legte die Hände um ihren Kaffeebecher und begann zu erzählen. Albert, der Erstgeborene, war Vaters Liebling gewesen. Schon immer. Er wurde bevorzugt. Er durfte im Kino
Dschungelbuch
sehen, als Belohnung für gute Noten, während Bertram Zimmerarrest hatte, weil er die Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Vater ging mit Albert in die Pizzeria, als in Germering eine eröffnet wurde und Pizza noch nach Urlaub, Meer und Sonne schmeckte. Albert bekam zu Weihnachten die teure Carrera-Rennbahn, während Bertram, der auf eine Skiausrüstung gehofft hatte, einen Schlitten unter dem Christbaum fand. »Immer ist das so gegangen. Vater hat die beiden gegeneinander ausgespielt. Aber Albert hat das nicht kapiert. Er hat ja auch unter der Situation nicht gelitten und sich in Vaters Zuwendungen gesonnt.«
»Und deine Mutter? Wie stand die dazu?«
»Meine Mutter?« Ich glaube, sie hat keines ihrer Kinder geliebt. Eigentlich wollte sie uns nicht, dachte Caroline. Sollte sie Marc von Ellis Liebe zu Peter Brandenbourg erzählen, von seinem tragischen Tod und Ellis anschließender Resignation und Selbstaufgabe? Aber das war eine andere Geschichte. »Meine Mutter war eigentlich kein Mensch der großen Gefühle. Sie hat uns versorgt, hat gekocht, geputzt, darauf geachtet, dass wir ordentlich angezogen waren und uns anständig benahmen. Sie hat nie gesagt, dass sie uns liebt. Eine zärtliche Geste oder ein liebevoller Blick waren schon das höchste der Gefühle. Sie hat alles gleichmütig mitgemacht, als wären wir ihr egal. Bis Albert dann eines Tages völlig aufgewühlt von der Schule nach Hause kam. Da war er zehn oder elf, ich acht oder neun. Das werde ich nie vergessen. Es war, als hätte jemand meine Mutter wachgerüttelt. Plötzlich war sie … anwesend und wie ausgewechselt.«
Marc machte sich ein Honigbrot, hörte ihr aber aufmerksam zu. »Was ist in der Schule geschehen?«
»Er muss doch schon elf gewesen sein. Erste Klasse Gymnasium. Sie hatten einen neuen Musiklehrer bekommen. Der hat den Instrumentenschrank geöffnet, und jedes Kind durfte sich ein Instrument aussuchen. Albert hat sich eine Geige genommen, und es muss ihm sofort gelungen sein, diesem Instrument Töne zu entlocken. Der Lehrer war begeistert, Albert auch. Er hat zu Mutter gesagt, die Geige habe im Schrank gelegen und auf ihn gewartet. Von da an hat er Geigenstunden bekommen, obwohl Vater das nicht wollte. Albert sollte sich auf die Schule konzentrieren, ein Einserabitur machen, Medizin studieren und später die Praxis übernehmen. Vater hat auf seine bewährte Art versucht, ihm die Musik auszureden. Klassische Musik sei was für Weicheier, brotlose Kunst, er solle ja nicht zu so einer langhaarigen ungewaschenen Kreatur verkommen und so weiter und so fort.« Caroline seufzte. Es war genauso gewesenwie immer. Steter Tropfen höhlt den Stein. Aber in diesem Fall hatte Mutter sich auf Alberts Seite gestellt und mit ihm gemeinsam gekämpft. »Vaters Taktik ging nicht auf. Auch deshalb, weil Mutter Albert den Rücken stärkte. Er war wirklich begabt und liebte die Musik. Schon nach einem Jahr hatte er einen neuen Lehrer, ich glaube sogar, jemanden vom Konservatorium. Aber durch das ständige Üben blieb wenig Zeit für die Schule. Alberts Noten sackten ab.
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