In weißer Stille
ließ sich von Tanja Wiezorek das Flugticket geben. Dabei reichte ihre Sekretärin ihr ein Päckchen,das in Geschenkpapier gewickelt und mit einer Schleife versehen war. »Als meine Mutter letztes Jahr gestorben ist, hat mein Freund mir das hier geschenkt. Es hat geholfen. Vielleicht hilft es auch Ihnen.«
Caroline dankte ihr und steckte das Geschenk in die Handtasche.
Als sie ihre Dachterrassenwohnung in Hadern betrat, fühlte sie sich müde und ausgelaugt. Der Ausblick durch die Fensterfront in dieser Wohnanlage für Besserverdienende zeigte einen gepflegten Garten mit dichtem Rasen und alten Bäumen, die vor Nässe trieften. Dunkle Wolken zogen über den Himmel wie der Rauch alter Lokomotiven.
Caroline streckte die verspannten Muskeln, ging ins Bad, ließ die Wanne einlaufen und goss reichlich von einem sündteuren Badeöl dazu. Später schlüpfte sie in Jeans und einen ausgeleierten Pulli. In ihrer Berufsverkleidung war sie Frau Doktor Heckeroth, in diesen saloppen Sachen wurde sie wieder zu der Caro, die als Dreizehnjährige davon geträumt hatte, Medizin zu studieren und in Afrika den Kampf gegen Malaria aufzunehmen. Vater hatte sie ausgelacht und dann, als er gemerkt hatte, dass sie es ernst meinte, eines seiner Spielchen begonnen.
Frauen sind dort unten Freiwild. Früher oder später wirst du vergewaltigt und mit einem Messer zwischen den Rippen im Gebüsch landen, wo sich ein Rudel Schakale über deinen Kadaver hermachen wird. Wenn es das ist, was du willst, dann bitte.
Zudem hatte er bei den Mahlzeiten ständig aus Zeitungsartikeln oder Fernsehberichten zitiert, was
dort unten
in Afrika geschah. Systematisch hatte er ihr die Begeisterung für diesen Kontinent ausgetrieben. Meistens hatte er es auf diese Weise geschafft, anderen seinen Willen aufzudrängen und sie doch in dem Glauben zu lassen, sie hätten ihre Entscheidung selbst getroffen. Nur nicht bei Bertram, dem Widerstandskämpfer.
Caroline öffnete den Kaminabzug und nahm eine alte Zeitung und Holz zum Anfeuern aus dem Korb daneben. Als ein kleines Feuer brannte, legte sie zwei Scheite Buchenholz auf, holte aus der Küche ein Glas Rotwein und setzte sich in den Ledersessel vor dem Kamin.
Sie genoss die Behaglichkeit ihrer Wohnung. Antiquitäten und Designermöbel, eine Palette warmer Cremefarben, eine ochsenblutrot gestrichene Wand, nicht zu elegant und nicht zu modern. Genau das hatte Caroline vorgeschwebt, und Babs hatte es in gelungener Weise umgesetzt. Es war höchste Zeit, dass ihre Schwägerin mit ihrem Talent auch Geld verdiente.
Das Telefon begann zu klingeln. Vermutlich Albert. Sicher wollte er Details der Beisetzung besprechen. Als sie ihm erklärt hatte, dass sie beruflich ziemlich im Stress war, hatte er sich sofort bereit erklärt, sich um alles zu kümmern, wofür sie ihm dankbar war.
Doch es war Marc. Er war erst vor gut zwei Stunden aus New York zurückgekehrt, wo er sich beruflich drei Tage aufgehalten hatte. »Ich dachte, ich komme vorbei und bringe etwas zum Abendessen mit. Und wenn du eine Schulter zum Ausweinen brauchst …«
»Es geht schon.«
»Es tut mir leid, dass ich nicht sofort bei dir sein konnte. Schade, dass das mit dem Beamen bisher nur im Kino funktioniert.« Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme wie auch seine Besorgnis. »Soll ich etwas vom Inder mitbringen oder lieber italienisch?«
»Du musst doch ganz gerädert sein. Der lange Flug und der Jetlag. Schlaf dich besser aus.«
»Kann ich gar nichts für dich tun?«
»Ich will heute Abend lieber alleine sein. Sei mir nicht böse, ja?«
Sie hörte, wie er gähnte. »Entschuldige. Die Idee, auszuschlafen, ist nicht schlecht. Aber morgen früh hole ich dich ab und bring dich zum Flughafen. Ich muss ohnehin in die Richtung.«
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, nahm sie das Büchlein und die Briefe aus der Tasche und setzte sich wieder in den Sessel. Das Leder des Einbands war trocken und rissig, an den Kanten abgegriffen. Mutter hatte sie gebeten, das Tagebuch zu verbrennen. Sie hatte jedoch nicht gesagt, dass sie es vorher nicht lesen dürfte. Allerdings enthielt ein Tagebuch Gedanken, die nicht jedermann zugänglich sein sollten. Caroline zögerte noch einen Moment, dann siegte die Neugier. Sie schlug das Buch auf. Wenn es Mutters Wunsch gewesen wäre, dass ihre Tochter nicht darin las, dann hätte sie das gesagt. Das Feuer flackerte, Caroline trank einen Schluck Rotwein und versuchte, die steile Handschrift ihrer Mutter zu entziffern. Der erste
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