In weißer Stille
wollte, mit seinen Kindern auf Bäume zu klettern, Rindenschifflein schwimmen zu lassen und Taschenlampenwanderungen durch dunkle Wälder zu unternehmen, dann war es langsam Zeit. Hatte er Torschlusspanik? War es das? Hatte ihn Angst dazu getrieben, Agnes dieses Ultimatum zu stellen, wo er doch eigentlich wusste, dass er ihr dadurch keine Wahl ließ, dass sie gar nicht anders reagieren konnte?
Er stand auf und holte sich noch einen Becher Kaffee. Dann rief er den Bereitschaftsdienst der Staatsanwaltschaft an und beantragte den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss, mit dem sie die Verbindungsdaten von Bertrams Handy und Festnetzanschluss von den Betreibern erhalten würden. Anschließend sah er bis zum späten Nachmittag Aussagen und Protokolle durch. Ihm fielen keine Widersprüche oder Ungereimtheiten auf. Trotzdem würden sie am Montag den Fall Heckeroth noch nicht abschließen können. Zu viele Fragen waren offen.
Inzwischen war es beinahe vier geworden. Ob Gina noch im Krankenhaus lag? Vermutlich, so elend, wie sie gestern ausgesehen hatte. Dühnfort stapelte die Aktendeckel auf dem Schreibtisch, schaltete den PC aus und verließ sein Büro.
In der Fußgängerzone herrschte dichtes Gedränge. Samstagnachmittag, Shoppingzeit. Vor ihm ging ein Pärchen mittleren Alters Richtung Marienplatz. Die Frau hatte sich bei ihrem Mann eingehakt, der die Lacktüten einer Parfümerie und eines Schuhgeschäfts trug. Dühnfort schnappte auf, wie sie ihm vorschlug, ins Café Glockenspiel zu gehen und danach eine Buchhandlung aufzusuchen, um nachzusehen, ob der neue Roman von Charlotte Lyne schon erschienen sei. Dühnfort ging Richtung Odeonsplatz und kaufte in den Fünf Höfen für Gina Walnuss-Scones. Dann kehrte er zum Präsidium zurück und fuhr mit dem Auto nach Großhadern.
* * *
Der Krach von gestern lag Babs noch immer im Magen. Wie hatte sie nur so dumm sein können, Albert derart zu provozieren? Es war ihre Schuld, dass der Streit eskaliert war. Hätte sie doch nur den Mund gehalten. Ihre Worte mussten ihm wie Hohn erschienen sein, und daraufhin hatte er es ihr mit gleicher Münze vergolten und Salz in die Wunde gestreut, die er sehr wohl kannte. Dabei hatte er es sicher nicht so gemeint. Erneut versuchte sie ihn zu erreichen, erst auf dem Handy und dann in der Wohnung seines Vaters, aber er meldete sich nicht.
Seit Marc Caroline abgeholt hatte, füllte Stille die Räume, eine Ruhe, die sie sonst genoss. Babs legte das Telefon zurück in die Ladeschale und atmete durch. Sie durfte sich nicht verrückt machen, außerdem musste sie den zweiten Entwurf fertigstellen und bis Montag noch einen dritten schaffen.
Die Zeichensachen lagen in der Küche. Babs holte sie und trug sie ins Arbeitszimmer, räumte einen Stapel medizinischer Fachzeitschriften auf die Kommode und stellte den Bürostuhl auf ihre Körpergröße ein. Dann riss sie ein Blatt Papier vom Block und befestigte es mit Tesafilm auf dem Zeichenbrett. Da nur noch ein kleiner Rest Klebeband auf der Rolle war, zog sie die Schublade aufund holte die Schachtel mit Nachschub hervor. Darunter entdeckte sie einen Schlüssel mit silbernem Anhänger in Form eines Äskulapstabes. Babs stutzte. Es gab keinen Zweifel, das war Wolframs Schlüssel vom Wochenendhaus, der seit dem Überfall verschwunden war. Wie kam er hierher?
Es dauerte einen Moment, bis Babs verstand. Bertram, dieser verdammte Mistkerl! Deshalb war er also in Alberts Arbeitszimmer gewesen und war wie ertappt zusammengezuckt, als sie ihn entdeckt hatte. Von wegen, ein Vogel sei gegen die Scheibe geflogen! Er hatte seinem Bruder Beweismaterial untergejubelt und sich dann schleunigst aus dem Staub gemacht.
Babs’ Knie wurden weich. Bertram hatte tatsächlich Wolfram umgebracht. Sie konnte das nicht glauben, und doch lag der Schlüssel in der Schublade. Was sollte sie nun damit machen?
Sie musste Dühnfort anrufen und … aber Bertram konnte doch nicht seinen eigenen Vater … jedenfalls nicht so. Babs stieß die Luft aus, die sie unwillkürlich angehalten hatte, und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Kannte sie Bertram wirklich so gut, dass sie für ihn die Hand ins Feuer legen konnte? Und selbst wenn, wer wusste schon, wozu Menschen fähig waren, die in die Enge getrieben wurden und sich in einer verzweifelten und aussichtslosen Lage befanden? Außerdem war Bertram nicht dumm. Natürlich traute ihm niemand zu, dass er, der Jähzornige und Impulsive, jemanden ausgerechnet auf so schleichende
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