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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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Aussicht, für zwei Tage die Schrecken der Woche hinter sich zu lassen, war verlockend. Sollten die Leute denken, was sie wollten, und eine Zahnbürste gab es in jedem Hotel. Was war eine Shiatsumassage? Das Wort klang beinahe magisch. Caroline fühlte sich von Kopf bis Fuß verkrampft und verspannt. Da konnte es nicht schaden, wenn tüchtige Hände ihre Muskeln durchkneten, sie lockern und weich und geschmeidig machen würden.
    Marc beobachtete sie gespannt.
    »Worauf warten wir?«, fragte sie.
    »Kein Widerspruch?«
    »Bin ich wirklich so schrecklich?«
    »Ehrlich gesagt: Manchmal schon.« Mit einem Lächeln nahm er diesen Worten ihre Härte. »Ich hatte ein wenig Bedenken, du würdest diese
Entführung
nichtgutheißen und dich weigern, in diesem Outfit und ohne Gepäck …«
    Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Heute ist mir alles egal. Ich würde sogar nackt da reingehen. Ich will diese Massage.« Sie griff nach ihrer Handtasche und stieg aus.
    Kurze Zeit später saßen sie in ihrem Zimmer mit Balkon und Seeblick. Es war in üppigem Bayernbarock eingerichtet. Schwere Holzmöbel, überbordende Schnitzereien und goldene Verzierungen, dicke Kissen und Polster aus teuren Stoffen mit floralen Dessins. Ganz und gar nicht Carolines Stil, dennoch tat dieses Zuviel an allem ihrer wunden Seele gut. In der Lobby gab es eine Boutique. Dort hatte Caroline sich nach dem Einchecken einen Trainingsanzug gekauft, denn sie sollte in leichter Kleidung zur Massage erscheinen, hatte die Dame am Empfang gesagt.
    Während sie sich umzog, öffnete Marc seine Reisetasche, in die er auch die wenigen Kleidungsstücke und Kosmetiksachen gepackt hatte, die Caroline in seiner Wohnung deponiert hatte. Er holte seine Joggingsachen heraus und trat ans Fenster. Der Regen hatte nachgelassen. »Ich laufe eine Runde, während du bei der Massage bist.«
    Marc begleitete Caroline bis zum Lift, der sie in den Wellnessbereich brachte. Dort wurde sie von einer zierlichen Frau mit schmalem Gesicht und veilchenblauen Augen erwartet. Sie stellte sich als Eva vor und führte Caroline in einen Raum, der mit Bambusmatten, Papierwänden und hellem Holzboden ausgestattet war. Leise Musik lief, es war angenehm warm, ein schwacher Duft von Zimt und Sandelholz hing in der Luft. Doch wo war die Massagebank und wo der Masseur?
    Eva bat Caroline, sich bäuchlings auf eine der Matten zu legen und Arme und Beine ein wenig vom Körper abzuspreizen. In ihr regten sich Widerspruch und Fragen, trotzdem folgte sie den Anweisungen. Die Musik klang wie ferne Meeresbrandung. Eva setzte sich neben sie auf die Matte und begann mit der Massage. Es war ein zartes Zupfen und Ziehen. Caroline fragte sich, was das bringen sollte, fühlte aber bald eine wohlige Ruhe, die sich von ihrer Körpermitte her auszubreiten begann. Sie überließ sich ganz diesem Gefühl, das sie mit sich trug, hinein in Schwerelosigkeit, wie Wellen, die einen sanft wiegten, bevor sie in Brandung umkippten und donnernd an Land schlugen. Caroline ließ sich von diesen Wogen tragen, fort von allem, und verlor jedes Gefühl für Zeit. Etwas in ihr begann sich zu lösen, sie zu verlassen. Das Zupfen hörte für einen Moment auf. Sie öffnete die Augen und sah eine Hand, die eine Kleenexbox ins Sichtfeld schob. Erst jetzt merkte sie, dass sie weinte.
    Als Eva die Massage beendete, hatte Caroline sich ausgeweint. Papiertaschentücher lagen verstreut auf der Matte. Sie fühlte sich wie befreit.
    »Geht es besser?«, fragte Eva.
    Caroline nickte.
    »Ihr Mann sagte mir, dass Sie großen Kummer haben. Es freut mich, dass ich Ihnen ein wenig helfen konnte.«
    Ihr Mann.
Der Klang dieser Worte war angenehm, beruhigend.
    »Wenn Sie möchten, kann ich Sie noch zur Kosmetik begleiten. Eine Maske für die Augen zum Abschwellen …«
    Sicher sah sie zum Davonlaufen aus, und die Aussicht, sich mit Peeling, Ampullen und Masken weiter verwöhnen zu lassen, war verlockend. »Geht das ohne Termin?«
    »Ihr Mann hat einen optioniert.«
    So viel Mitgefühl habe ich gar nicht verdient, dachte Caroline. Woher kam es, dass Marc so genau wusste, was ihr guttat, dass er sich so um sie sorgte? Vielleicht liebte er sie wirklich. So wie Peter Elli geliebt hatte.
    Anderthalb Stunden später fuhr Caroline mit dem Lift wieder nach oben. Gesichtsbehandlung und Maniküre lagen hinter ihr. Sie fühlte sich entspannt und wohl – so wohl, wie es unter diesen Umständen möglich war. Vom Hunger, der in ihrem Magen bohrte,

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