Incarceron
was ich sage. Ich kann mich noch daran erinnern, dass die Tiere früher vollständig organisch waren. Dann tauchten die ersten Schaltkreise auf, nur winzige Verbindungen, die an die Stelle von Adern und Sehnen traten. Die Sapienti haben stets jedes Stück Gewebe, das sie finden konnten, seziert und untersucht. Es hat eine Zeit gegeben, da habe ich Belohnungen ausgesetzt für jeden Kadaver, der zu mir gebracht wurde, doch das Gefängnis war gewöhnlich schneller.«
Finn nickte. Sie alle wussten, dass die Ãberreste einer jeden toten Kreatur über Nacht verschwanden. Incarceron schickte sofort seine Käfer aus, um das Rohmaterial zum Recycling in Sicherheit zu bringen. Nichts wurde jemals hier begraben, nichts verbrannt. Selbst die Comitatus, die getötet worden waren, wurden einfach an einem Ort in der Nähe des Schachtes liegen gelassen, ausgestattet mit ihren liebsten Habseligkeiten, zugedeckt mit Blumen. Am Morgen waren sie immer fort.
Zu ihrer Ãberraschung ergriff Attia das Wort. »Meine Leute wussten das. Die Lämmer sehen schon seit langer Zeit so aus wie dieses hier und die Hunde ebenfalls. Letztes Jahr wurde in unserer Gruppe ein Kind geboren. Sein linker Fuà war aus Metall.«
»Was ist mit ihm geschehen?«, fragte Keiro leise.
»Mit dem Kind?« Sie zuckte mit den Schultern. »Man hat es getötet. So etwas darf nicht überleben.«
»Der Abschaum war da sanftmütiger. Wir haben alle möglichen Absonderlichkeiten am Leben gelassen.«
Finn warf ihm einen Blick zu. Keiros Stimme hatte beiÃend geklungen. Dann wandte sich sein Eidbruder ab, um sie in den Wald zu führen. Gildas jedoch rührte sich nicht. Stattdessen sagte er: »Begreifst du denn nicht, was das bedeutet, du dummer Junge? Es bedeutet, dass dem Gefängnis das organische Material ausgehtâ¦Â«
Aber Keiro hörte gar nicht zu. Warnend hob er seine Hand. Ein Geräusch drang durch den Wald. Ein leises Flüstern, ein raschelnder Wind. Zuerst war kaum etwas zu hören, und die Blätter bewegten sich fast gar nicht, doch Finn spürte die Brise in seinem Haar, und Gildasâ Robe bewegte sich.
Finn fragte: »Was ist das?«
Der Sapient setzte sich in Bewegung und drängelte sich an ihm vorbei. »Schnell. Wir müssen einen Unterschlupf finden.«
Â
Sie rannten durch die Bäume, Attia immer auf Finns Fersen. Der Wind wurde schnell stärker. Blätter stoben auf, wirbelten herum und sausten an ihnen vorbei. Eines schrammte Finns Wange, und als er seine Hand auf die plötzlich stechende Stelle presste, spürte er einen Schnitt und sah Blut. Attia keuchte und hob schützend eine Hand vor die Augen.
Mit einem Mal waren sie mitten in einem Wirbel aus Metallstückchen; die Blätter aus Kupfer, Stahl und Silber, scharf wie Rasierklingen, tobten in einem Wirbelsturm um sie herum. Die Stämme ächzten und bogen sich, und die Zweige brachen mit lautem Knacken, das bis ins unsichtbare Dach Incarcerons emporgetragen wurde.
Finn rannte geduckt und atemlos, und er hörte das Brüllen des Sturms wie eine laute Stimme. Die Böen rissen an ihm, hoben ihn in die Luft und schleuderten ihn weg; ihre zornige Kraft lieà ihn gegen Metallbäume prallen, sodass er schon bald voller Blutergüsse war. Während er vorwärtsstolperte, wusste er, dass die Blätter Incarcerons Worte und rachsüchtige Pfeile waren, mit denen das Gefängnis ihn quälte, ihn, seinen Sohn, geboren in seinen Zellen. Als Finn einen Augenblick auf beiden FüÃen stehen konnte, beugte er sich keuchend vor und schrie: »Ich höre dich! Ich höre dich! Aufhören!«
»Finn!« Keiro riss ihn zu Boden. Er rutschte vorwärts, bis er in einem Hohlraum im Wurzelgestrüpp einer riesigen Eiche verschwand.
Er landete auf Gildas, der ihn von sich abschüttelte. Sie alle rangen nach Atem und lauschten auf die todbringenden Blätter, die auÃerhalb ihres Verstecks durch die Luft schnellten, surrten und schwirrten.
Dann war von weiter hinten Attias Stimme zu hören.
»Was ist das für ein Ort?«
Finn drehte sich zu ihr um. Er sah eine schummrige, runde
Höhle, die tief unter die Stahleiche reichte. Sie war zu niedrig, um darin stehen zu können, und man konnte auch nicht weit hineinsehen. Attia kroch auf Händen und Knien weiter. Metallblätter knackten unter dem Mädchen; Finn bemerkte einen modrigen, seltsamen Geruch und
Weitere Kostenlose Bücher