Incarceron
Plötzlich hockte sie sich neben das beinahe niedergebrannte Feuer und sagte: »Meister, du musst schlafen, und ich muss es auch. Aber ich bestehe darauf, dass du morgen in meiner Kutsche reist. Wir können Alegons Historien lesen, bis Alys einschläft, und dann können wir uns unterhalten. Heute Abend will ich nur so viel sagen: Auch wenn es nicht Giles ist, so könnte er es doch immerhin sein. Wir könnten uns vorstellen , dass er es ist. Zusammen mit dem Testament des alten Mannes und dem Mal auf dem Handgelenk des Jungen könnte es berechtigte Zweifel am Tod von Giles geben. Genügend Zweifel jedenfalls, um die Hochzeit zu stoppen.«
»Seine DNAâ¦Â«
»Das würde nicht dem Protokoll entsprechen. Das weiÃt du doch.«
Jared schüttelte den Kopf. »Claudia. Ich kann nicht glauben, dass ⦠Das ist unmöglich â¦Â«
»Denk darüber nach.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Selbst wenn dieser Junge nicht Giles ist, dann muss Giles irgendwo anders in Incarceron stecken. Caspar ist nicht der Erbe, Jared. Und ich habe vor, genau das auch zu beweisen. Wenn das bedeutet, dass ich es mit der Königin und meinem Vater aufnehmen muss, dann werde ich das tun.«
An der Tür zögerte sie kurz. Sie wollte Jared nicht allein mit seinem Schmerz zurücklassen, und sie wollte irgendetwas sagen, um seine Sorgen zu lindern. »Wir müssen ihm helfen. Wir müssen all jenen helfen, die in dieser Hölle festsitzen.«
Jared hatte ihr den Rücken zugedreht, aber er nickte. Mit trostloser Stimme sagte er: »Geh zu Bett, Claudia.«
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Sie schlüpfte hinaus auf den schwach beleuchteten Flur. Weit hinten in einem Alkoven brannte eine Kerze. Im Gehen schabte ihr langes Kleid über den FuÃboden. Als sie an der Tür zu ihrem Zimmer angelangt war, wartete sie kurz ab und drehte sich dann abrupt um.
Alles im Gasthaus schien ruhig. Aber sie glaubte, vor der Tür, die zu Caspars Raum gehören musste, eine Bewegung auszumachen, und so starrte sie in das Dämmerlicht und kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum.
Der groÃe Mann, Fax, lag dort, über zwei Stühle hinweg ausgestreckt. Er sah sie unverwandt an. Dann schwenkte er mit einer spöttischen, anzüglichen Geste, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte, seinen Bierhumpen in ihre Richtung.
17
In den alten Gesetzesvorschriften war die Gerechtigkeit immer
blind. Doch was wäre, wenn sie etwas sehen könnte, ja, wenn sie
alles zu sehen vermöchte und ihr Auge kalt und ohne Gnade wäre?
Wer wäre noch sicher vor einem solchen Blick?
Jahr für Jahr wurde Incarcerons Griff fester. Das Gefängnis
verwandelte das, was der Himmel hätte sein sollen, in die Hölle.
Das Tor ist verschlossen; auÃerhalb sind unsere Schreie nicht
zu hören. Und so begann ich im Geheimen, einen Schlüssel
anzufertigen.
LORD CALLISTONS TAGEBUCH
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A ls Finn durch das Stadttor trat, sah er, dass es Zähne hatte. Es war wie ein Maul geformt, das weit aufgerissen war und Fänge aus Metall hatte, welche wie scharfe Rasierklingen aussahen. Finn glaubte, dass es einen Mechanismus gäbe, damit man es im Notfall herunterfallen lassen konnte, sodass aus dem Gatter ein undurchdringlicher, festgeschlossener Biss würde.
Rasch huschte sein Blick zu Gildas, der sich müde auf den Wagen stützte. Der alte Mann war voller Blutergüsse, und seine Lippen waren von einem Schlag, den man ihm versetzt hatte, geschwollen. Finn sagte zu ihm: »Es muss doch hier auch solche wie dich geben.«
Mit seinen gefesselten Händen kratzte sich der Sapient im Gesicht
und entgegnete trocken: »Wenn, dann verdienen sie keinen groÃen Respekt.«
Finn runzelte die Stirn. Das alles war Keiros Schuld. Das Erste, was die Kranich-Männer getan hatten, nachdem sie sie aus der Falle geschleift hatten, war, Gildasâ Bündel zu durchwühlen. Dabei hatten sie achtlos die meisten seiner Pülverchen und Salben, die sorgfältig eingewickelten Federkiele und das Buch mit den Liedern von Sapphique, das er immer bei sich trug, auf dem Boden verteilt. Das alles hatte sie nicht interessiert. Doch als sie die Pakete mit dem Fleisch fanden, da hatten sie einander vielsagende Blicke zugeworfen. Einer von ihnen, ein dürrer Mann, hatte sich auf seinen Stelzen umgedreht und sie angeknurrt: »Dann seid ihr also die Diebe.«
»Hört zu, mein Freund«, hatte
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