Incarceron
Vogel mit einer raschen Bewegung in die Luft zurück und schloss das Fenster. Als er sich umdrehte, sah Claudia die tiefen Schatten unter seinen Augen. »Du hast recht.«
Sie wechselten einen stummen Blick, dann setzte Claudia an: »Man hat Giles nicht getötet. Man hat ihn eingekerkert .«
»Claudia â¦Â«
»Niemals hätten sie Havaarna-Blut vergossen! Vielleicht hatte die Königin aber auch Skrupel. Oder mein Vater â¦Â« Sie sah zu ihrem Lehrer auf: »So ist es doch: Mein Vater muss davon gewusst haben.«
Die Schärfe in ihrer Stimme erschreckte sie beide. Claudia setzte sich auf einen Stuhl. »Und da ist noch etwas anderes. Dieser Junge, Finn. Der Gefangene. Seine Stimme ⦠kommt mir vertraut vor.«
»Vertraut?« Jared sah sie prüfend an.
»Ich habe sie schon zuvor gehört, Meister.«
»Das bildest du dir nur ein. Du solltest keine voreiligen Schlüsse ziehen, Claudia.«
Einen Moment lang schwieg sie. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Auf jeden Fall müssen wir es noch einmal versuchen.«
Jared nickte. Er ging zur Tür und verriegelte sie, dann befestigte er mit einem Klicken ein kleines Gerät an der Rückseite, stellte es ein und drehte sich wieder zu seiner Schülerin zurück.
Claudia hatte den Schlüssel schon herausgenommen. Sie aktivierte den Sprachkanal und betätigte dann das kleine Sichtfeld, das sie entdeckt hatten. Jared stand hinter ihr und sah zu, wie das Hologramm des Adlers lautlos mit den Flügeln schlug.
»Hast du das Pad gelöscht?«
»Ja, natürlich. Vollständig.«
Während der Schlüssel zu leuchten begann, fuhr Jared leise fort: »Sie hatten kein Problem damit, das Blut des alten Mannes
zu vergieÃen, Claudia. Vielleicht wissen sie inzwischen bereits, dass wir sein Haus durchsucht haben, und sie werden sich vor dem fürchten, was wir gefunden haben könnten.«
»Mit sie meinst du doch meinen Vater.« Sie sah auf. » Mir wird er nichts tun. Wenn er mich verliert, verliert er den Thron. Und ich werde dich beschützen, Meister. Das schwöre ich.«
Jared lächelte wehmütig. Er bezweifelte, dass sie dazu in der Lage sein würde, und Claudia wusste das ebenfalls.
Ganz leise drangen mit einem Mal Worte aus dem Schlüssel: »Kannst du mich hören?«
Claudia antwortete aufgeregt: »Er ist es. Finn, berühre das Schaltfeld. Du musst es mit den Fingern suchen. Hast du es gefunden?«
»Ja.« Er klang zögernd. »Was passiert, wenn ich darauf drücke?«
»Ich glaube, dann können wir einander sehen. Dir wird nichts geschehen. Versuch es, bitte!«
Eine Sekunde lang herrschte Stille, nur durchbrochen von gelegentlichem Knacken. Und dann hätte Claudia beinahe einen Satz zurück gemacht. Aus dem Schlüssel löste sich lautlos ein Projektionsstrahl. Er endete in einem Quadrat, und in diesem Quadrat hockte verschreckt und schmutzig ein junger Mann.
Er war groà und sehr mager, das Gesicht ausgezehrt und ängstlich. Seine Haare waren glatt, zurückgebunden und mit einer Schnur verknotet. Seine Kleidung war die schmutzigste, die Claudia jemals gesehen hatte  â eine Mischung aus schlammigen Grau- und Grüntönen  â, und sie war arg zerschlissen. Ein Schwert und ein rostiges Messer steckten in seinem Gürtel.
Staunend und ungläubig starrte der Junge sie an.
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Finn glaubte eine Königin oder eine Prinzessin zu sehen.
Ihr Gesicht war sauber und ihr Blick offen; ihre Haare glänzten. Sie trug ein Kleid aus schimmernder Seide und eine Perlenkette um den Hals, die ein Vermögen wert sein musste, wenn sich überhaupt je ein Käufer fände, der reich genug wäre, sie zu erstehen. Er sah auf den ersten Blick, dass sie noch nie hungrig gewesen war und dass sie intelligent war und einen klaren Verstand hatte. Hinter ihr entdeckte er einen dunkelhaarigen Mann, der sie beide beobachtete. Er trug die Robe der Sapienti, der Gildasâ Umhang im Vergleich dazu wie einen Lumpen erscheinen lieÃ.
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Claudia blieb so lange sprachlos, dass Jared ihr schlieÃlich einen fragenden Blick zuwarf. Er verstand sofort, dass sie erschüttert war, vermutlich vom Zustand des Jungen, und so sagte er leise: »Es scheint, als wäre Incarceron doch kein Paradies.«
Der Junge funkelte ihn an. »Macht Ihr Euch über mich lustig, Meister?«
Jared schüttelte den
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