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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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wehte eine eisige Brise herab. Die Zeltplanen flatterten im Wind, Johns Augen begannen zu tränen.
    Am Rand des Lagers stand eine Gruppe von Indios um eine Feuerstelle, fünf Männer, die augenscheinlich geschäftig wirken wollten, es aber nicht wirklich waren. Noch bevor John etwas sagen konnte, stürzte Poncho wild gestikulierend auf sie zu und begann, ihnen etwas in einer Sprache zuzurufen, die er nicht verstand. Offenbar jagte er ihnen ordentlich Angst ein, denn die Männer wirkten sichtlich betreten. Mit gesenkten Häuptern ließen sie die Worttirade des Übersetzers über sich ergehen, anschließend verschwanden sie im Eiltempo zwischen den Zelten.
    »Was hast du ihnen gesagt?«, wollte John wissen.
    »Dass sie die Ausrüstung im Lager zusammensuchen sollen, Herr.«
    »Ist das alles?«
    »Ich sagte noch, dass Ihr jedem von ihnen eine Hand abschlagen werdet, wenn sie sich nicht beeilen – so wie Don Pizarro es letzte Woche angeordnet hat. Das hat offensichtlich geholfen.«
    John seufzte. »Offensichtlich«, wiederholte er und marschierte den Hang hinauf.
    Er durchstreifte das Lager, ohne selbst allzu viel zu arbeiten. Die fünf Indios erledigten das für ihn, angetrieben von Poncho, der keinen von ihnen aus den Augen ließ und sofort eingriff, wenn einer sich ausruhte. Im Grunde kam John sich dabei schäbig vor. Es widerstrebte ihm, seine Machtposition auszunutzen und sich als Unterdrücker aufzuspielen. Aber er wusste, dass er sich zumindest dem Anschein nach den Gepflogenheiten seiner Landsleute anpassen musste, um nicht aus der Rolle zu fallen. Als Kurier von Francisco de Orellana, der erst gestern hier angekommen war, wurde er von Pizarros Männern ohnehin schon als Außenseiter betrachtet. Wenn er die Indios zu sehr schonte, würde ihn das nur weiter isolieren. Man würde es ihm als Schwäche auslegen, und Schwächlinge – daran hatte er nicht den geringsten Zweifel – wurden in dieser rauen Zeit allzu schnell selbst zu Opfern. Darauf wollte er es nicht ankommen lassen.
    Während John den Indios beim Arbeiten zusah, kroch ihm die Kälte immer tiefer unter die Haut, aber obwohl er am ganzen Körper zitterte, fühlte er sich innerlich warm. Gordon hatte recht gehabt: Das hier war besser als jeder Urlaub auf Caldwell Island. Prickelnder, spannender, intensiver – weil es unberechenbarer war. John schätzte, dass er sich mittlerweile eine Stunde in dieser neuen Welt aufhielt, und das Gefühl, jeden Augenblick könne etwas Unvorhergesehenes, vielleicht sogar Gefährliches passieren, verfolgte ihn auf Schritt und Tritt. Caldwell Island war eine Inszenierung, ein Spiel. Das hiesige Leben war jedoch echt!
    Nicht nur auf John lastete eine gewisse Nervosität, auch auf den Spaniern und Indios. Über dem gesamten Lager lag eine Atmosphäre konzentrierter Anspannung. Jeder schien sich des bevorstehenden Abenteuers bewusst zu sein. Sogar die Tiere waren aufgeregt, das konnte man deutlich spüren.
    John glaubte, einen Schrei zu hören – nur kurz und unterdrückt, deshalb war er sich nicht sicher. Er ließ seinen Blick über die Zeltdächer wandern, aber soweit er es beurteilen konnte, ging alles seinen gewohnten Gang. Poncho trieb die Indios zur Eile, hier und da klapperte jemand mit Geschirr, und am Rand des Zeltlagers wurden nach wie vor die Tiere für die Reise vorbereitet.
    Vielleicht habe ich mich getäuscht, dachte John. Oder es war nur das Quieken eines Schweins.
    Seine Gedanken kehrten zu der bevorstehenden Expedition zurück, zu dem Mut all jener, die – freiwillig oder gezwungenermaßen – daran teilnahmen, ohne zu wissen, dass sie blindlings ins Verderben rannten. Die Tiere und Indios hatten natürlich keine Wahl, sie mussten sich dem Diktat der Spanier beugen. Diese waren die Einzigen, die die bevorstehende Katastrophe hätten verhindern können, doch sie unterschätzten die Risiken der Expedition. Oder sie ignorierten sie, angetrieben von der Hoffnung auf Reichtum und Ruhm. Hier, in Südamerika, wurde Eldorado vermutet, das legendäre Goldland, ebenso La Canela, eine Ebene, dicht bewachsen mit Zimtbäumen. Gewürze waren in jenen Zeiten beinahe ebenso begehrt wie Gold – teils wegen des Geschmacks, vor allem aber aufgrund ihrer medizinischen Wirkung. Nicht umsonst war Christoph Kolumbus seinerzeit aufgebrochen, um die Zimtstraße zu entdecken. Als Entkeimungsmittel und zur Anregung von Verdauung und Atmung herrschte im sechzehnten Jahrhundert eine gewaltige Nachfrage nach Zimt, was wiederum

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