Incognita
Panzerung – Brustharnisch und Stiefelkappen. Ergänzt wurde die Montur durch einen offenen Helm und ein Schwert, das an seiner Hüfte baumelte. Das Metall schien die Kälte des Morgens wie ein Schwamm in sich aufzusaugen. Johns Glieder fühlten sich steif an, seine Füße waren wie Eisklötze.
Er formte die Hände zu einem Hohlraum, um ihnen Wärme einzuhauchen, erschrak jedoch über den Anblick, der sich ihm bot. Er entfaltete seine Hände wieder und betrachtete sie von allen Seiten. Diese kräftigen Finger mit der rauen, ledrigen Haut waren ihm fremd, als gehörten sie gar nicht zu ihm. Die Bestürzung verflog, als er sich noch einmal in Erinnerung rief, dass der Zeitsprung körperlos vonstatten gegangen war. Sein Geist steckte nun in einer anderen Person – eine gewöhnungsbedürftige neue Konstellation.
Unwillkürlich fragte er sich, wie sein neues Gesicht wohl aussah. In Ermangelung eines Spiegels beugte er sich über die nächstgelegene Pfütze. Er schien ein paar Jahre älter zu sein als im wirklichen Leben, etwa Mitte vierzig. Sein dunkelblondes, knapp schulterlanges Haar wirkte etwas zerzaust und vagabundenhaft. Zwei dunkle, eher sanftmütig dreinblickende Augen, eine gerade Nase und ein stoppeliger Vollbart entlang der markanten Kiefer- und Kinnpartie ergänzten das Bild. Keine auffälligen Narben, keine Geschwüre, keine sonstigen Entstellungen. Er war nicht gerade ein Schönling, aber es hätte auch schlimmer kommen können.
Er ging weiter durch die rechtwinklig angelegten Gassen und versuchte, sich zu orientieren – alles andere als einfach, da dieser Ort kaum etwas mit der Millionenmetropole der Gegenwart gemein hatte. Doch glücklicherweise war die Umgebung seit Jahrhunderten unverändert geblieben, sodass John sich dennoch rasch zurechtfand. Die Stadt lag eingebettet in ein fünftausend Meter hohes Bergmassiv wie eine Perle in einer hohlen Hand. In unmittelbarer Nähe erhoben sich sanfte, von störrischem Steppengras bewachsene Hügelkuppen. Dahinter türmten sich nach allen Himmelsrichtungen schneebedeckte Vulkane auf: im Norden das riesige Massiv des Cayambe, im Westen der Illiniza, im Osten der eisige Antizana und im Süden der perfekt geformte Kegel des Cotopaxi. Obwohl diese Vulkane kilometerweit entfernt lagen, schienen sie zum Greifen nah.
John hielt sich weiter in Richtung Südtor. Er bog in eine schmale Gasse ein, folgte dem schnurgeraden Weg zwischen zwei Häuserzeilen hindurch – und traf auf ein Bild der Armut. Auch in diesem Viertel waren die Lehmziegelhütten mit spanischer Präzision errichtet worden, dennoch war auf den ersten Blick klar, dass hier die niedrigste soziale Schicht wie im Slum einer Großstadt hauste. Zwei Indio-Kinder spielten, in dicke Ponchos gehüllt, auf dem feuchtkalten Boden mit einem Lederknäuel, das mehr an eine Kartoffel als an einen Ball erinnerte. Dabei riefen sie sich immer wieder Worte auf Quichua zu, der Sprache der Hochland-Indios. Eine Greisin bereitete an einer Feuerstelle ein karges Mahl – choclos , gekochte Maiskolben, und ein paar Bohnen. Ein dreibeiniger Hund humpelte um die Alte herum. Aus vielen Behausungen drang das Geplärr von ewig hungrigen Babys. Das Spiegelbild des Elends.
Je näher John seinem Ziel kam, desto deutlicher hörte er nun Stimmen und Lärm. Auch der Gestank von Urin und Exkrementen wurde mit jedem Schritt intensiver.
John passierte das von zwei trutzigen Türmen flankierte Südtor und trat hinaus ins Freie. Schweine und Lamas tummelten sich hier massenhaft in provisorischen Pferchen, ihr Quieken und Blöken erfüllte den Altiplano mit ohrenbetäubendem Lärm. Noch dazu dieser Gestank! John hatte große Lust, sich vor der bevorstehenden Arbeit zu drücken, wollte aber kein Risiko eingehen. Wenn Loco – der Verrückte – Wind davon bekam, konnte er sich gewaltigen Ärger einhandeln. Genau das wollte er vermeiden.
Er ließ die Szenerie weiter auf sich wirken. Ein gutes Stück abseits der Nutztierpferche wurden die Jagdhunde gehalten, angebunden an langen Leinen. Einige von ihnen lagen faul auf dem Boden, die meisten kläfften und jaulten jedoch wie wild, womit sie die Pferde scheu machten, die weiter hinten festgemacht worden waren.
Die Tiere waren natürlich nicht allein, überall wimmelte es von Menschen: Spanier in gepanzerten Uniformen und Indios in dicken Alpaka-Ponchos, die von bunten, gewebten Gürtelbändern, sogenannten fajas , zusammengehalten wurden. Außerdem trugen sie wollene Mützen oder
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