Incognita
verstand John so viel: Es war der 18. Februar des Jahres 1541, und er befand sich in Quito, also im Altiplano, dem Anden-Hochland. Gestern war er als Vorbote Francisco de Orellanas hier eingetroffen, mit der Nachricht, dass Orellanas Truppe in Guayaquil festsaß und sich verspäten würde. Gonzalo Pizarro – Orellanas Cousin und Stadthalter von Quito – hatte die Nachricht alles andere als positiv aufgenommen. Seine Vorbereitungen für die Durchquerung des südamerikanischen Kontinents waren beendet, und ihm widerstrebte der Gedanke, noch wochenlang untätig herumzusitzen, bis die Verstärkung eintraf.
Das war die aktuelle Situation.
John hätte Fuentes gerne noch weiter ausgefragt, aber er wollte keinen Argwohn erwecken. Wie hätte er seine eklatanten Gedächtnislücken begründen sollen? Der gestrige Rausch erklärte schließlich nicht alles.
Er versuchte, sich an den Namen des Soldaten zu erinnern, dem er beim Packen helfen sollte. Vergeblich. Also fragte er Fuentes: »Wo finde ich die Lamas?«
»Am anderen Ende der Stadt, am Südtor.« Fuentes deutete in die entsprechende Richtung und machte ein mitleidiges Gesicht. »Immer dem Gestank nach. Die Lamas befinden sich unmittelbar neben den Schweinen.«
Während John sich den Weg durch den Ort bahnte, stellte sich bei ihm erstmals das Gefühl der Erleichterung ein. Bislang hatte er gar keine Gelegenheit gefunden, sich darüber klar zu werden, dass seine Zeitreise reibungslos geklappt hatte. Er war noch ein wenig träge und benebelt und hatte mit einer leichten Sehschwäche zu kämpfen, abgesehen davon erfüllte ihn jedoch eine prickelnde Vorfreude, wie er sie zuletzt als Kind in den letzten Stunden vor der Weihnachtsbescherung erlebt hatte.
Weitere Kindheitserinnerungen tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Damals hatte er hier gelebt – seine Mutter stammte aus Quito. Von ihr hatte er auch Spanisch gelernt. Allerdings hätte er nicht gedacht, dass er die Sprache noch gut genug beherrschte, um sich problemlos mit den Konquistadoren zu verständigen. Im Grunde fand er das sogar merkwürdig. Zum einen veränderte sich eine Sprache im Lauf der Jahrhunderte – davon hatte er bislang aber kaum etwas bemerkt. Zum anderen sprach er seit seinem sechsten Geburtstag kaum noch Spanisch. Die wenigen Gelegenheiten im Urlaub waren daher recht holprig verlaufen. Jetzt kam es ihm vor, als habe er nie damit aufgehört. Er fragte sich, wie Gordon und seine Wissenschaftler diese Hürde bewältigt hatten. Hatte jeder von ihnen zuvor einen Sprachkurs belegt? Oder wurde das Problem allein dadurch behoben, dass der Wirtskörper eine Art Dolmetscherfunktion übernahm? John beschloss, Gordon später danach zu fragen. Im Moment wollte er sich lieber auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
Er durchstreifte die armselige Ansammlung von Hütten, die vorwiegend aus luftgetrockneten Lehmziegeln errichtet worden waren, dem Baustoff, der in dieser baumkargen Gegend am einfachsten herzustellen war. Bei aller Schlichtheit wirkten die Unterkünfte recht neu, und sie waren in jenem klaren Schachbrettmuster angeordnet, das sich bis ins heutige Quito erhalten hatte. Während John durch die Gassen schlenderte, erinnerte er sich an das, was seine Mutter ihm über die Geschichte der Stadt erzählt hatte: Nach der Ermordung des letzten Inka-Königs Atahualpa hatte der spanische Konquistador Sebastián de Belalcázar Quito dem Erdboden gleichmachen lassen, um es von Grund auf neu zu errichten. Das war 1534 gewesen, also vor gerade mal sieben Jahren. Wenn man die Kürze der Zeit berücksichtigte, hatte Belalcázar ein kleines Wunder vollbracht.
Der Boden war matschig, die Luft empfindlich kalt. Bei jedem Atemzug bildete sich vor Johns Gesicht eine feine Kondenswolke. Noch war es früher Morgen, und die Temperatur lag bei knapp über null Grad. Erst im Lauf des Tages würde die Sonne sich durchsetzen und für das angenehm frühlingshafte Klima sorgen, das sich in dieser Region, nur zwanzig Kilometer südlich des Äquators, das ganze Jahr über hielt.
John verspürte ein leichtes Unwohlsein – vermutlich durch die Höhenluft. Er hielt einen Moment inne, um zu verschnaufen. Vornübergebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, wartete er ab, bis der Schwindelanfall sich wieder legte. Während er so dastand, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass er dieselbe Kleidung trug wie alle anderen spanischen Soldaten: ein Hemd mit gelbschwarzen Puffärmeln, gelbe, eng anliegende Beinlinge und darüber die
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