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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Filzhüte, teilweise auch Schals. Nur ihre Füße waren durch die geflochtenen, aus Agavenfasern hergestellten Sandalen kaum vor der Kälte geschützt.
    Es herrschte emsiges Treiben, jeder schien einer genau festgelegten Aufgabe nachzukommen, irgendeinem höheren System folgend. Die Schweine wurden für die lange Reise angeleint, Pferde gesattelt, Ausrüstungsgegenstände in Tücher geschlagen sowie Lamas und Träger bepackt. Weiter hinten, jenseits des wilden Getümmels, schmiegte sich ein beeindruckendes Lager aus unzähligen Zelten an den sanften Anstieg des Pichincha, Quitos ›Hausberg‹, einem noch immer aktiven Vulkan mit anmutigen 4.897 Metern Höhe. Auch dort herrschte rege Betriebsamkeit. Alles in allem handelte es sich, wie John wusste, um mehrere Tausend Tiere und Menschen. Sie alle zu koordinieren und für das große Wagnis, die Durchquerung des südamerikanischen Kontinents, vorzubereiten, war eine logistische Meisterleistung.
    John fiel der Name des Mannes wieder ein, bei dem er sich melden sollte: Colvedo. So ähnlich jedenfalls. Den Gestank ignorierend, marschierte er zu den Lamas, wo er den Gesuchten rasch fand.
    Pedro Colvedo war ungefähr in Johns Alter, schlank und trug sein schulterlanges, haselnussbraunes Haar als Zopf. Sein Helm thronte auf einem in den Boden geschlagenen Holzpflock – dem Eckpfeiler eines Pferchs. Abgesehen davon war Colvedo in voller Soldaten-Montur.
    »Luiz Ortega! Schön, Euch zu sehen. Ich befürchtete schon, der Berg habe Euch verschluckt. Wir bepacken schon seit Stunden die Tiere. Wir sind beinahe fertig, wie Ihr seht.« Demonstrativ wuchtete er zwei zusammengebundene, prall gefüllte Säcke auf den Rücken eines Lamas. »Wer die Arbeit scheut, macht sich hier keine Freunde, ob Ihr nun ein Kurier Orellanas seid oder nicht.« Er sagte es nicht nur abweisend, sondern geradezu feindselig. Zum zweiten Mal wurde John klar, dass er hier keinen Sonderstatus genoss. Sich aufs bloße Zusehen zu konzentrieren würde nicht funktionieren. Für die Dauer seines Aufenthalts musste er in die Rolle eines Konquistadoren schlüpfen und kräftig mit anpacken. Er stammelte eine Entschuldigung und versicherte Colvedo, dass er von nun an voll und ganz über ihn verfügen könne.
    Colvedo gab einen abschätzigen Knurrlaut von sich und teilte John eine Aufgabe zu. Ab sofort war er dafür verantwortlich, dass sämtliche Ausrüstungsgegenstände, die sich noch im Zeltlager befanden – Töpfe, Pfannen, Schalen, aber auch Werkzeuge wie Äxte und Hämmer –, eingesammelt, in Bündel verpackt und hierher geschafft wurden, damit sie auf die Lasttiere und Träger verteilt werden konnten.
    »Sucht Euch ein paar Eingeborene, die nichts zu tun haben. Sie sollen Euch helfen«, sagte Colvedo. »Die verdammten Plattgesichter sind faul wie die Schweine. Noch fauler als Ihr sogar. Wenn sie nicht spuren, dann lasst sie das Leder spüren.« Er nahm einen Ochsenziemer, der an einem Holzpflock hing, und reichte ihn John. »Davor haben diese verfluchten Heiden ordentlichen Respekt. Meistens genügt schon die Androhung. Aber schlagt ruhig kräftig zu, wenn Euch danach ist. Bis zur Mittagsstunde muss alles gepackt sein.«
    Colvedo drehte sich um und pfiff durch die Finger. Daraufhin eilte ein kleiner Indio-Mann herbei, der der Morgenkälte begegnete, indem er gleich mehrere Ponchos übereinandertrug. Dadurch wirkte er wie ein ungelenker, pummeliger Zwerg.
    »Das ist Mariano«, sagte Colvedo und klopfte dem Kleinen auf die Schulter, etwa so, wie man ein Schoßtier tätschelt. »Aber wir nennen ihn alle nur Poncho. Er ist einer unserer Übersetzer. Er wird Euch helfen, Euch mit den Plattgesichtern zu verständigen. Nicht wahr, Poncho, das tust du?«
    Der Mann nickte eifrig. Ob er die Bezeichnung Plattgesichter demütigend fand, ließ er sich nicht anmerken. »Si, Señor! Si! Ich werde für Euch übersetzen. Ich spreche alle Indio-Dialekte. Ich erweise Euch gute Dienste – Ihr werdet sehen.«
    Hinter Ponchos anbiedernder Art steckte pure Angst, wie John vermutete. Er konnte das gut nachvollziehen. Pizarros Konquistadoren waren derbe Rüpel, zumindest die meisten von ihnen. Grobschlächtige Hitzköpfe, die Streit suchten und jedem mit Herablassung begegneten, der nicht zu ihrem Kreis gehörte. Die Eingeborenen hatten darunter gewiss noch viel mehr zu leiden als John.
    Mit Poncho im Schlepptau steuerte er auf das Lager zu. Je weiter er sich von der Stadt entfernte, desto kälter wurde es, denn vom Rucu Pichincha

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