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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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überantworten. Das Schicksal eines Besessenen.
    Die Marschformation setzte sich in Bewegung – zuerst die Reiter, dann die Fußsoldaten und so weiter, bis zuletzt auch die Lamas und Schweine nachzogen. Wie eine gigantische Schlange fraß sich der Zug durch den feuchten Matsch. Wer nicht zu den Expeditionsteilnehmern gehörte, hatte sich als Zuschauer vor den Mauern Quitos eingefunden: Soldaten, die während Pizarros Abwesenheit für Recht und Ordnung in der Stadt sorgen sollten, spanische Händler und Geistliche, die sich hier angesiedelt hatten, außerdem die verbleibenden indianischen Einwohner, vorwiegend Alte, Kranke und Kinder. Während die Spanier ausgelassen miteinander redeten oder die Konquistadoren im Zug mit patriotischen Zurufen anspornten, standen die Indios wie Delinquenten da, stumm, mit gesenkten Häuptern und niedergeschlagenen Mienen. Viele von ihnen waren in Tränen aufgelöst.
    Kein Wunder, dachte John beim Anblick dieser seelengepeinigten Gestalten. Hier wurden Familien und Freunde erbarmungslos auseinandergerissen. Wer kräftig und gesund war, den hatten die Spanier für die Reise eingeteilt. Der untaugliche Rest musste zurückbleiben, im ungewissen darüber, ob der heutige Tag einen Abschied für immer bedeutete.
    Vom Rucu Pichincha wehte an diesem außergewöhnlich kalten Tag ein eisiger Wind herab, wie ein Vorbote für all die Unbequemlichkeiten, denen die Expedition in den nächsten Monaten ausgesetzt sein würde. John fröstelte. Er blieb einen Moment lang stehen, hauchte sich an die klammen Finger und sah sich um. Ganz automatisch suchten seine Augen die Reihen der Indios nach der jungen Frau ab. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis er sie erspähte. Sie war ein gutes Stück hinter ihm und kam nun auf ihn zu, den Blick geradewegs auf ihn gerichtet. Zumindest bildete John sich das ein, bevor er erkannte, dass sie ihn gar nicht ansah, sondern viel eher durch ihn hindurchschaute, gerade so, als bestehe er aus Luft. Er begriff, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas gerichtet hatte, das hinter ihm war, und drehte sich um.
    Ein Pulk von Eingeborenen stand unweit des Osttors, eng zusammengedrängt in offensichtlicher Trauer. Im ersten Moment war an diesem Bild nichts Ungewöhnliches zu erkennen: ein paar Greise, ein paar Frauen, ein paar weinende Kinder. Doch dann stach John inmitten der Menge ein junger Mann ins Auge, kaum älter als zwanzig. Das allein war schon auffällig genug. Was ihn darüber hinaus jedoch von den anderen in der Gruppe unterschied, war sein Gesichtsausdruck. Darin lag nicht nur Trauer, Wehmut und Abschiedsschmerz, sondern vor allem unverhohlener Hass. Als John den blutverkrusteten Verband um den Stumpf seines linken Unterarms sah, ahnte er auch den Grund dafür: Dieser junge Mann war eines der Opfer, das Gonzalo Pizarro hatte verstümmeln lassen. Die andere Hand ruhte indessen auf den Schultern eines etwa fünfjährigen Jungen, der vor ihm stand – offenbar sein Sohn –, mit schmutzigem Gesicht, vor Kälte schlotternd, oder vielleicht auch vor Trauer. Dicke Tränen kullerten aus den weit aufgerissenen Augen, seine Nase war rotzverschmiert, und sein Kinn zitterte bei jedem Schluchzer.
    Auf einmal änderte sich die Miene des Jungen. Von einer Sekunde auf die andere schien er das Weinen zu vergessen. Sein kleines, pausbäckiges Gesicht verzog sich zu einem freudigen Lächeln, und er stieß einen spitzen Schrei aus. Dann schüttelte er die Hand seines Vaters von der Schulter und rannte los.
    Er kam geradewegs auf John zu, machte im letzten Moment einen Bogen um ihn und landete schließlich, nur drei Meter weiter, in den Armen der Indio-Frau. Sie kniete sich auf den Boden, drückte den Kleinen so fest sie konnte an sich und küsste ihn – Mutter und Kind, ein letztes Mal glücklich vereint, bevor der Tross die Stadtmauern Quitos endgültig hinter sich lassen würde.
    Dann gesellte sich auch noch der verstümmelte junge Mann zu ihnen. Mit der Rechten griff er in das schwarze, samtige Haar der Frau und drückte sie an sich. Der verbundene linke Arm umschlang gleichzeitig den kleinen Körper seines Sohns. Die drei waren eine Familie, zerrissen von den Eroberungsplänen der spanischen Unterdrücker.
    Der Anblick berührte Johns tiefstes Inneres, zumal er den Ausgang der Expedition kannte. Die junge Frau würde niemals zu ihren Liebsten zurückkehren – kein einziger Indio würde das. Das Kind in ihren Armen war schon jetzt eine Waise, der Mann Witwer, nur wussten sie

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